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Wir sind nicht wir

Wir sind nicht wir

Matthew Thomas
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Roman

„Aus seiner so kleinen, intimen Szene heraus und mit so wenigen, kurzen Wörtern so weit ausholen zu können, beweist, dass dies nicht nur ein dicker, sondern ein großer Roman und dass Matthew Thomas ein begnadeter Epiker ist.“ - Süddeutsche Zeitung

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Wir sind nicht wir — Inhalt

Ob in dem kleinen Apartment in Queens, in dem Eileen in den 1940er- und 50er-Jahren aufwächst, gelacht oder geweint wird, kommt ganz darauf an, wer gerade zu Besuch ist oder wieviel getrunken wird. Nicht ihre Eltern möchten, dass sie es einmal besser hat – sie selbst will dieser Enge unbedingt entfliehen. Als sie Ed Leary begegnet, einem jungen Wissenschaftler voller Sanftmut, scheint das Ersehnte so nah: ein schönes Haus, eine kleine Karriere, eine glückliche Familie. Doch was, wenn Träume in Erfüllung gehen, das Glück sich aber nicht hinzugesellt? Thomas erzählt nicht von Tellerwäschern und Millionären, sondern von ganz gewöhnlichen Menschen. Denn sie – die Mittelschicht – sind es, die Amerika zu einem mythischen Ort der Freiheit und Selbstverwirklichung gemacht haben. Aber so, wie wir längst wissen, dass dieser Mythos nur eine Chimäre war, erfahren auch Eileen, Ed und ihr Sohn Connell, wie schnell Sichergeglaubtes ins Wanken gerät. Dann stellen sich die drängenden Fragen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Hat man ein Recht auf Glück? Und wer sind wir, wenn wir nicht mehr wir selbst sind?

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 16.02.2015
Übersetzt von: Astrid Becker, Karin Betz
896 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7798-1
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„Ja, man sollte als Soundtrack zur Lektüre vielleicht Neil Young in Erwägung ziehen, all seine Lieder über die "Ordinary People", diese Otto-Normal-Menschen, die weder Lichtgestalt sind, noch einen Heiligenschein tragen. [...] Geschöpfen, denen Matthew Thomas in seinem Familienepos ein Denkmal setzt.“
Heilbronner Stimme
„Ein großartiger Roman über die Belastbarkeit des Menschen.“
rostfrei - Aktiv und Gesund Leben für Fortgeschrittene
„In seinem Romandebüt zeigt sich Matthew Thomas, der auf seine eigene Biographie zurückgreift, als kraftvoller Erzähler. Er schildert Eds allmählichen Verlust des Gedächtnisses und sein Abgleiten in einen für seine Familie unzugänglichen Raum mit großer Einfühlsamkeit.“
Junge Welt
„Aus seiner so kleinen, intimen Szene heraus und mit so wenigen, kurzen Wörtern so weit ausholen zu können, beweist, dass dies nicht nur ein dicker, sondern ein großer Roman und dass Matthew Thomas ein begnadeter Epiker ist.“
Süddeutsche Zeitung
„'Wir sind nicht wir' ist ein Familienepos über drei Generationen. Und es ist ein Buch über eine starke Frau, eine Witwe, deren Mann noch lebt. ‚Wir sind nicht wir‘ von Matthew Thomas ist ein berührender Roman.“
Bayerische Rundfunk 5
„Ein bewegendes Buch. Man lernt etwas über das Leben dabei. Und wer es zuklappt, ist danach auch nicht mehr ganz er selbst. So wie das sein soll bei guter Literatur.“
WDR 5 "Scala"
„'Wir sind nicht wir' ist ein Familienepos aus der amerikanischen Mittelschicht, mitreißend und herzergreifend geschrieben.“
Westdeutsche Zeitung (dpa)
„Die Saga einer irischen Einwandererfamilie im New York des 20. Jahrhunderts – Kulisse für einen großartigen Gesellschafts- und Liebesroman – und der hat Bestsellerpotenzial.“
BUNTE
„Manchmal erinnert die Heldin des Romans an Scarlett O’Hara in einer modernen 'Vom Winde verweht'-Version.“
Glamour
„Matthew Thomas ist ein feiner Schilderer von Seelenzuständen und nie um ein klares Wort verlegen. Er erzählt gradlinig, realistisch, drastisch.“
Frankfurter Rundschau
„Thomas macht etwas, was man nennen könnte – dem Leben bei seiner Arbeit zuschauen.“
hr 2 Kultur "Kulturfrühstück"
„Thomas kann schreiben. Er ist ganz dicht bei seinen Helden, schildert akribisch genau ihren Alltag, findet poetische Bilder und Vergleiche. […] und wie er mit dem Thema Alzheimer umgeht, DAS kennt die Literatur SO bisher nicht.“
NDR Kultur

Leseprobe zu „Wir sind nicht wir“

Sein Vater blickte auf die Angelschnur im Wasser. Der Junge fing einen Frosch und schob ihm einen Haken in den Bauch, weil er wissen wollte, wie es aussah, wenn er ihn durchbohrte. Glitschige Eingeweide blieben daran kleben, ihm wurde übel vor Schuld. So harmlos er konnte, fragte er seinen Vater, ob man mit Fröschen fischen könne. Der musterte ihn kurz mit geweiteten Nasenflügeln und schüttelte drohend die Kaffeebüchse mit den durcheinanderwimmelnden Würmern, von denen einige über den Rand schwappten und wegkrochen. Er sagte ihm, er habe etwas Böses [...]

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Sein Vater blickte auf die Angelschnur im Wasser. Der Junge fing einen Frosch und schob ihm einen Haken in den Bauch, weil er wissen wollte, wie es aussah, wenn er ihn durchbohrte. Glitschige Eingeweide blieben daran kleben, ihm wurde übel vor Schuld. So harmlos er konnte, fragte er seinen Vater, ob man mit Fröschen fischen könne. Der musterte ihn kurz mit geweiteten Nasenflügeln und schüttelte drohend die Kaffeebüchse mit den durcheinanderwimmelnden Würmern, von denen einige über den Rand schwappten und wegkrochen. Er sagte ihm, er habe etwas Böses getan und seine Jugend sei keine Entschuldigung für seine Grausamkeit. Zwang ihn, den Haken herauszuziehen und das zuckende Geschöpf so lange in den Händen zu halten, bis es starb. Dann hielt er ihm das Ködermesser hin und befahl ihm, ein kleines Grab auszuheben. Sein Ton war erschreckend fremd, als seien sie bloß zwei beliebige Menschen auf dieser Erde, als sei ein unsichtbares Band zwischen ihnen durchschnitten worden.

Nachdem er den Frosch beerdigt hatte, klopfte sich der Junge umständlich den Dreck ab, um nicht aufsehen zu müssen. Sein Vater sagte ihm, er solle eine Weile über seine Tat nachdenken, und ließ ihn stehen. Der Junge lauschte den verklingenden Schritten, und als ihm die Tränen in die Augen stiegen und ihm der lehmige Geruch faulender Blätter in die Nase drang, ging er in die Hocke. Er richtete sich wieder auf und sah auf den Fluss hinaus. Die Abenddämmerung schlich rasch ins Tal. Nach einer Weile begriff er, dass er länger geblieben war, als sein Vater es im Sinn gehabt hatte, doch er brachte es nicht über sich, zum Auto zurückzugehen, weil er Angst hatte, sein Vater habe ihn verstoßen. Etwas Schlimmeres konnte er sich nicht vorstellen, und so schleuderte er Steine in den Fluss und wartete darauf, dass sein Vater ihn holen kam. Als ein Kiesel ohne das gewohnte Aufspringen im Wasser versank und hinter ihm ein lautes Krächzen einsetzte, rannte er entsetzt los. Sein Vater lehnte an der Motorhaube, einen Fuß auf der Stoßstange, und machte den Eindruck, als hätte er auch die ganze Nacht dort auf ihn gewartet. Jetzt rückte er seine Kappe zurecht und öffnete die Autotür, um sie beide nach Hause zu bringen. Noch hatte er ihn nicht verloren.


TEIL I

TAGE UNTER SONNE UND REGEN

1951 – 1982


1

Die Männer, die sich nach der Arbeit in Doherty's Bar trafen, gingen nicht zum Priester, sondern zu Eileen Tumultys Vater. Sie war dort und sah es mit eigenen Augen, obwohl sie erst in der vierten Klasse war. Wenn er seine Tagesrunde gegen halb fünf hinter sich hatte, holte er sie vom Stepptanz-Unterricht ab und nahm sie mit in die Bar. Das Training im Keller des Pfarrhauses dauerte eigentlich bis sechs, aber Eileen machte es rein gar nichts aus, früher zu gehen. Mr Hurley brüllte sie ständig an, sie sei nicht im Takt oder sie solle die Arme gestreckt und näher am Körper halten. Eileen war zu schlaksig für die sparsamen Schritte eines Tanzes, dessen Entstehung Mr Hurley zufolge darauf zurückzuführen war, dass er jederzeit abgebrochen werden und von vorbeifahrenden Polizisten für bloßes Herumstehen gehalten werden konnte. Sie wollte Jitterbug, Lindy Hop oder irgendeinen anderen Tanz lernen, bei dem sie unbeschwert herumzappeln konnte, aber ihre Mutter hatte sich für Irischen Tanz entschieden.

Ihre Mutter hatte Irland noch nicht ganz aufgegeben und war auch noch nicht eingebürgert, während ihr Vater gerne hinausposaunte, dass er am ersten Tag, an dem er alle Voraussetzungen dafür erfüllte, die Staatsbürgerschaft beantragt hatte. Die gerahmte Einbürgerungsurkunde, datiert auf den dritten Mai neunzehnhundertachtunddreißig, hing einem Aquarellgemälde im Wohnzimmer gegenüber, das den heiligen Patrick bei der Vertreibung der Schlangen zeigte, dem einzigen Kunstwerk bei ihnen zu Hause, es sei denn, man hielt das geschnitzte keltische Kreuz für eines. Ein kleines Foto ihres Vaters mit einem geprägten Siegel über einer zu allem entschlossenen, erbitterten Miene und eine fein säuberliche Unterschrift zierten die Urkunde. Eileen erhoffte sich Auskünfte von diesem Foto, aber sooft sie es auch ansah, die schmallippige jüngere Ausgabe ihres Vaters gab rein gar nichts preis.

Sobald ihr Vater da war, die gesamte Türeinfassung einnehmend und den Stetson wie ein Schild gegen Small Talk vor sich haltend, hörte Mr Hurley auf, sie alle anzublaffen. In Gegenwart ihres Vaters gaben Männer schnell Ruhe. Die Mädchen tanzten den Slip Jig dann noch zu Ende, und Eileen konnte sich an den Fiedeln erfreuen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, mit ihrem Geschlenker aus der Reihe zu tanzen. Sowie das Lied ausgeklungen war, erteilte Mr Hurley ihr die Erlaubnis zu gehen. Solange sie brauchte, um ihre Sachen zusammenzuraffen, sah er zu Boden. Sie hatte es immer so eilig, herauszukommen und mit ihrem Vater in die Bar zu gehen, dass sie sich erst auf der Straße die normalen Schuhe anzog.

Nachdem sie schweigend die letzte Straße überquert hatten, lief Eileen oft voraus, um endlich einmal einen Mann auf dem Platz ihres Vaters zu erwischen, stellte jedes Mal aber nur wieder fest, dass die anderen schon erwartungsvoll im Halbkreis um seinen Hocker zusammengerückt waren.

Die Kneipe war verraucht und sie war das einzige Kind, aber sie konnte ihren Vater beobachten, wie er Hof hielt. Vor fünf waren nur Arbeiter wie er in der Kneipe, die ihr Bier langsam unter einer Dunstglocke wohliger Erschöpfung tranken. Nach fünf stellten sich allmählich die Büroangestellten ein und klopften mit ihren Münzen auf den umlagerten Tresen, um bedient zu werden. Dann kippten sie das Bier runter und bestellten augenblicklich das nächste, wobei sie sich an der Messingstange festhielten und sich weit über den Tresen lehnten, um die Sache zu beschleunigen. Ihren Vater behielten sie so scharf im Auge wie den Barkeeper.

Eileen saß in Faltenrock und Bluse an einem knarrenden Tisch ganz in der Nähe, machte Hausaufgaben und spitzte die Ohren, um ihre Gespräche aufzuschnappen. Sie verstand die Männer mühelos, denn sie flüsterten nicht einmal, obwohl Eileen keine zwei Meter von ihnen entfernt saß. Die Autorität ihres Vaters hatte etwas Klärendes, das den Beichten die Peinlichkeit nahm.

„Es macht mich verrückt“, begann sein Freund Tom stockend. „Ich kann nicht mehr schlafen.“

„Heraus damit.“

„Ich habe Sheila betrogen.“

Ihr Vater rückte näher zu Tom und sah ihn scharf an.

„Wie oft?“

„Nur ein Mal.“

„Lüg mich nicht an.“

„Beim zweiten Mal war ich zu nervös, um es zu Ende zu bringen.“

„Macht also zwei Mal.“

„Stimmt.“

Im Vorübergehen prüfte der Barkeeper den Pegel ihrer Gläser und schlug sich das Küchentuch über die Schulter. Ihr Vater warf ihr einen Blick zu, und sie drückte den Bleistift so fest auf das Übungsbuch, dass die Spitze abbrach.

„Wer ist das Flittchen?“

„Ein Mädchen aus der Bank.“

„Du machst auf der Stelle Schluss mit ihr.“

„Ja, Mike.“

„Machst du so was Idiotisches noch mal? Dann sag's mir lieber gleich.“

„Nein.“

Ein Mann kam in die Kneipe, die beiden nickten ihm zu. Hinter ihm wehte ein Luftzug herein, der ihr kalt um die bloßen Beine strich und den Geruch nach verschüttetem Bier und Kneipenboden auffrischte.

„Greif tief in die Tasche“, sagte ihr Vater. „Kauf Sheila was Schönes von deinem Ersparten.“

„Ja, das ist gut. Das mach ich.“

„Bis zum letzten Penny.“

„Bis zum allerletzten.“

„Schwör bei Gott, dass es aus ist.“

„Ich schwöre es, Mike. Feierlich.“

„Wehe, mir kommt zu Ohren, dass du dich wieder rumgetrieben hast.“

„Das ist für immer vorbei.“

„Und mach bloß keinen Quatsch. Erzähl es deiner armen Frau nicht. Sie ist sowieso schon gestraft genug mit dir.“

„Du hast ja recht“, sagte Tom.

„Du bist ein verdammter Idiot.“

„Ich weiß.“

„Vergiss es. Besorg uns was zu trinken.“

Sie lachten über alles, was er sagte – außer wenn er ernst wurde, dann setzten sie finstere Mienen auf –, und sie rühmten seine Verdienste, als stünde er nicht unmittelbar neben ihnen. Der Hälfte von ihnen hatte er Jobs an Land besorgt – bei Schaefer's oder im Ausschank von Macy's, als Hausmeister oder Handlanger.

Alle nannten ihn Big Mike. Er stand in dem Ruf, keinen Schmerz zu kennen. Sein Kreuz war so breit, dass er selbst in Hemdsärmeln den Eindruck erweckte, er trüge ein Jackett. Seine Fäuste waren so groß wie Babyköpfe und sein Rumpf wie die Bierfässer, die er sich links und rechts unter die Arme klemmte. Von der Schufterei abgesehen, verschwendete er keine Energie an seine Statur; er war nicht muskelbepackt, sondern einfach bauernstark. Überraschte man ihn in einem ruhigen Moment, schien er auf normale Größe geschrumpft. Hatte man aber etwas zu verbergen, konnte man ihm beim Wachsen zusehen.

Sie war nicht zu jung, um zu begreifen, dass ihm eher die Männer gefielen, die selten da waren und sich nicht ruckzuck am schaumigen Gebräu seines Mythos besoffen, und die, die erst zaudernd am Meer seiner Menschlichkeit schnupperten.

Obwohl sie erst neun war, hatte sie sich schon eine Menge zusammengereimt. Zum Beispiel, warum ihr Vater sie nicht einfach nach der Bar vom Stepptanz abholte. Das hätte nämlich bedeutet, den Männern, die in ihren Anzügen erst später aus Manhattan eintrafen, etwas von seiner ohnehin knappen Zeit vorzuenthalten. Wenn sie ihn sahen, lockerten sie die Krawatten, legten die Jacketts ab, drängten sich um ihn und legten los. Er hätte die Bar statt um Viertel vor sechs schon um halb sechs verlassen müssen, und die paar Minuten machten den Unterschied aus. Sie war sich darüber im Klaren, dass es für ihn nicht nur ums Vergnügen ging, sondern dass es ihm eine Pflicht war, seinen Männern zur Verfügung zu stehen, die er genauso ernst nahm wie diejenige ihrer Mutter gegenüber.

Sie aßen jeden Abend zu dritt. Ihre Mutter putzte die Fabrikbüros und Toiletten bei Bulova, und danach stellte sie das Abendessen um Punkt sechs auf den Tisch, komme, was wolle. Entschuldigungen ließ sie nie gelten. Auf dem Heimweg sah ihr Vater dauernd auf die Uhr, und je näher sie der Wohnung kamen, desto schneller ging er. Manchmal konnte Eileen nicht mehr Schritt mit ihm halten, dann nahm er sie auf den Arm. Manchmal wurde sie absichtlich langsamer, um sich von ihm tragen zu lassen.

An einem lauen Juniabend, eine Woche vor Beginn der Ferien nach der vierten Klasse, fanden sie einen gedeckten Tisch und eine verschlossene Schlafzimmertür vor, als sie nach Hause kamen. Ihr Vater klopfte mit gekränkter Miene auf seine Uhr, zog sie auf und stellte sie nach der über dem Spülbecken. Es war zwanzig nach sechs. Weil er so wütend war, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, folgerte Eileen, dass es um mehr ging als um ihre Verspätung, um irgendetwas zwischen ihren Eltern, das sie nicht verstand. Sie ärgerte sich über ihre Mutter, weil die so streng auf das Einhalten der Uhrzeit pochte, doch ihr Vater schien ihr aus einem anderen Grund böse zu sein. Er aß langsam und schweigend, goss Eileen Wasser nach, wenn er aufstand, um sich ein neues zu holen, und tat ihr noch ein paar Karotten aus dem Topf auf. Dann zog er seine Jacke an und ging wieder los. Eileen lauschte an der Schlafzimmertür, öffnete sie aber nicht, obwohl kein Laut zu hören war. Auch hinter Mr Kehoes Tür war es still. Sie bekam schreckliche Angst, verlassen worden zu sein. Am liebsten hätte sie gegen die Türen gehämmert und beide gezwungen herauszukommen, aber sie war klug genug, ihre Mutter in Frieden zu lassen. Um sich zu beruhigen, wischte sie den Herd und die Arbeitsflächen, bis kein Krümel und kein Schmierfleck mehr zu sehen war, bis es überhaupt keine Anzeichen mehr dafür gab, dass ihre Mutter gekocht hatte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, schon immer allein gewesen zu sein, und kam zu dem Schluss, dass es leichter sein müsse, als irgendwann erst verlassen zu werden. Alles wäre leichter als das.

Sie hörte in der Bar so genau zu, weil er zu Hause nicht viel sprach. Und wenn, gab er beim Fleischaufspießen seine Grundsätze zum Besten: „Ein Mann sollte immer ein Ziel vor Augen haben, auch wenn er dafür kämpfen muss.“ „Für einen Mann ist ein Nebenverdienst Pflicht.“ „Geld ist zum Ausgeben da.“ (Von Letzterem war er fest überzeugt; er brachte keinerlei Verständnis für Leute auf, die in Amerika geboren worden waren und kein Bargeld in der Tasche hatten, um eine Runde zu schmeißen.)

Er arbeitete an drei Abenden in der Woche in einer anderen Kneipe: bei Doherty's, Hartnett's und im Leitrim Castle – so viel zu seinem Nebenjob. Wenn Big Mike Tumulty am Zapfhahn stand und Bier in die Gläser schäumen ließ, war es in der Bar immer brechend voll, und das Geld floss in Strömen, als wäre er ein durchreisender Schauspieler, dessen wenige Vorstellungen man auf keinen Fall verpassen durfte. Auch Schaefer profitierte davon, denn alle wussten, dass er einer seiner Männer war. Er kultivierte den irischen Akzent, den sich ihre Mutter abgewöhnte; er war ihm beruflich von Nutzen.

Wenn Eileen all ihren Mut zusammennahm, um ihn nach seiner Herkunft zu fragen, winkte er ab. „Ich bin Amerikaner“, antwortete er nur, als sei damit alles gesagt, und in gewisser Weise war es auch so.

Als Eileen im November 1941 geboren wurde, waren noch Spuren der Wälder zu erkennen, die im Namen ihres Viertels anklangen, dabei waren es die Friedhöfe an den Grenzen von Woodside, die für das Grün in der Nachbarschaft sorgten. Die Ordnung der Natur hatte sich hier verkehrt – Asphalt, Holzfassaden und Ziegel atmeten Leben, und der Tod herrschte über das Gras.

Ihr Vater hatte elf und ihre Mutter zwölf Geschwister, aber Eileen hatte keine. In einem vierstöckigen Gebäude, das in einer engen Häuserreihe entlang der Hochbahn Sieben gebaut worden war, schliefen die drei in schmalen Betten wie in einer Armeebaracke. In dem anderen Schlafzimmer wohnte ein Untermieter, Henry Kehoe, der einen Teil der monatlichen Ausgaben trug und sich dafür wie ein König bettete. Er nahm seine Mahlzeiten außer Haus ein, und wenn er da war, schloss er die Tür hinter sich und spielte so leise Klarinette, dass Eileen das Ohr an die Tür legen musste, um es zu hören. Sie sah ihn nur beim Kommen und Gehen oder wenn er das Badezimmer benutzte. Vielleicht hätte sie seine geisterhafte Anwesenheit schwer ertragen, wäre es je anders gewesen, doch unter den gegebenen Umständen fand sie es tröstlich, ihn hinter dieser Tür zu wissen, vor allem wenn ihr Vater nachts nach Hause kam und Whiskey getrunken hatte.

Ihr Vater trank nicht täglich. Wenn er in den Bars arbeitete, rührte er keinen Tropfen an und in der Fastenzeit auch nicht, um sich selbst zu beweisen, dass er es konnte – außer natürlich am St. Patrick's Day und an den Tagen davor und danach.

Wenn ihr Vater hinter dem Tresen stand, gingen sie früh zu Bett und schliefen tief und fest. Doch wenn er nicht arbeitete, hielt ihre Mutter sie länger wach, und sie kümmerten sich um die vielen Kleinigkeiten – um das gute Silber, die Porzellanfiguren, die Kristalle des Kronleuchters, die Bilderrahmen. Was für ein Chaos auch nach der Wiederkehr ihres Vaters ausbrechen mochte, vorher herrschte eine fast greifbare Aufregung, als würden sie eine Party für einen einzigen Gast schmeißen. Wenn es nichts mehr zu putzen oder zu polieren gab, schickte ihre Mutter sie ins Bett und wartete auf der Couch. Eileen ließ die Schlafzimmertür angelehnt.

Es ging ihm gut, wenn er Bier trank. Dann legte er Hut und Mantel sorgfältig an der Garderobe ab, sank geschmeidig und brummend wie ein angeleinter Bär auf die Couch, die Pfeife fest zwischen den Zähnen. Sie hörte ihre Mutter dann leise mit ihm über Haushaltsangelegenheiten sprechen; er nickte, hielt die gespreizten Finger zum Dreieck gegeneinandergepresst und ließ es wieder in sich zusammenstürzen.

Manchmal kam er sogar tanzend herein und brachte ihre Mutter zum Lachen, obwohl sie ihn eigentlich ignorieren wollte, zog sie vom Sofa und führte sie in einem langsamen Box-Step durchs Zimmer. Er hatte ein Wahnsinnscharisma; ihre Mutter war nicht dagegen gefeit.

Trank er jedoch Whiskey, wie meistens an Zahltagen, riss die Leine. Dann pfefferte er seinen Mantel auf den Flurtisch und trottete auf der Suche nach Sachen, die er an die Wand feuern konnte, in der Wohnung herum, als könnte sich nur so der angestaute Erwartungsdruck der Männer in der Bar entladen. Alle wussten, was für Unmengen an Whiskey ihr Vater vertrug, ohne die Selbstbeherrschung zu verlieren – sie hatte die Männer bei Doherty's damit prahlen hören. Eines Abends erklärte er ihrer Mutter auf deren resignierte Nachfragen hin, dass er sich weigere, den Glauben der Männer an ihn zu erschüttern, wenn sie ihn zu neuen Runden herausforderten, selbst wenn er sich kaum mehr aufrecht halten und klar und deutlich sprechen konnte. Jeder brauche etwas, an das er glauben kann.

Er zielte nie auf ihre Mutter und warf nur mit unzerbrechlichen Gegenständen: mit Sofakissen und Büchern. Ihre Mutter saß still da, bis er fertig war. Wenn er Eileen durch den Türspalt spähen sah, hielt er unvermittelt inne – wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat – und verschwand im Badezimmer. Ihre Mutter schlüpfte ins Bett. Am nächsten Morgen brütete er über einer Tasse Tee und blinzelte träge wie eine Echse umher.

Manchmal hörte Eileen die Gradys oder die Longs streiten. Das Geschrei störte sie gar nicht, hatte es doch zu bedeuten, dass es noch andere sorgenbeladene Familien im Haus gab. Wenn die Stimmen lauter wurden, kam es zwischen ihren Eltern zu Momenten dunkler Verbundenheit, in denen sie sich über den Küchentisch hinweg unter gehobenen Augenbrauen Blicke oder ein müdes Lächeln zuwarfen.

Beim Abendessen deutete ihr Vater einmal auf Mr Kehoes Zimmer und sagte zu ihrer Mutter: „Er wird nicht ewig bei uns bleiben.“ Der Gedanke an ein Leben ohne Mr Kehoe machte Eileen traurig. Ihr Vater fügte hinzu: „So der Herrgott will.“

Ganz gleich, wie oft sie sich bemühte, Mr Kehoe durch die Wand zu hören: Die einzigen Geräusche waren das Quietschen der Bettfedern, das leise Kratzen seines Füllers, wenn er an dem kleinen Schreibtisch saß, und die weichen Töne der Klarinette.

Sie saßen beim Abendessen, als ihre Mutter überstürzt aufstand und das Zimmer verließ. Ihr Vater folgte ihr und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu. Ihre Stimmen waren gedämpft, aber Eileen konnte ihre Erregung hören. Sie schlich zur Tür.

„Ich löse ihn wieder aus.“

„Du bist ein verdammter Idiot.“

„Ich bringe das wieder in Ordnung.“

„Wie denn? ›Big Mike leiht sich nie einen Penny von einem anderen Mann‹“, äffte sie ihn nach.

„Ich schaffe das irgendwie.“

„Warum hast du es nur so weit kommen lassen?“

„Glaubst du vielleicht, ich will, dass meine Frau und meine Tochter in so einem Loch wohnen?“

„Ach, großartig! Jetzt sind wir auch noch schuld?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Ein Luftzug drückte die Schlafzimmertür gegen ihre Hände. Eileens Herz klopfte schneller.

„Du denkst doch nur an deine Pferdewetten. Tu nicht so, als ob es anders wäre.“

„Aber ich hatte es im Hinterkopf“, sagte ihr Vater. „Ich weiß doch, dass du hier rauswillst.“

„Es gab eine Zeit, in der ich geglaubt habe, du könntest es bis zum Bürgermeister von New York bringen“, sagte ihre Mutter. „Aber dir reicht es, Bürgermeister vom Doherty's zu sein. Nicht mal der Besitzer. Einfach nur Bürgermeister.“ Sie machte eine Pause. „Ich hätte das verdammte Ding nie vom Finger nehmen sollen.“

„Ich löse ihn wieder aus. Ich versprech's dir.“

„Daran glaubst du doch selber nicht.“ Ihre Mutter hatte sich das Schreien verbissen und mehr oder weniger gezischt, aber jetzt klang sie nur noch traurig. „Hier muss was dran glauben, und da muss was dran glauben, und eines Tages ist nichts mehr da.“

„Es reicht“, sagte ihr Vater. In der darauffolgenden Stille sah Eileen ihre Eltern vor sich, wie sie einander geheimnisvoll und wissend ansahen, wie zwei Steinfiguren, deren Herzen sie nie ergründen würde.

Als sie das nächste Mal allein zu Hause war, zog sie die Schublade der Kommode auf, in der ihre Mutter den Verlobungsring aufbewahrte, seit sie ihn einmal beim Abwaschen fast den Abfluss hinuntergespült hätte. Manchmal hatte Eileen ihre Mutter dabei beobachtet, wie sie die Schatulle öffnete, und angenommen, sie freue sich am Spiel des Lichts auf den Facetten, aber als die Schatulle nun fehlte, wurde ihr bewusst, dass sie sich eigentlich immer nur hatte vergewissern wollen, ob der Ring noch an Ort und Stelle war.

Eine Woche vor ihrem zehnten Geburtstag kam Eileen mit ihrem Vater nach Hause und ihre Mutter war weder in der Küche noch im Schlafzimmer, noch im Badezimmer, und hatte auch keinen Zettel hinterlassen.

Ihr Vater machte eine Dose Bohnen warm, briet Speck und stellte ein paar Scheiben Brot auf den Tisch.

Als sie beim Essen saßen, kam auch ihre Mutter wieder. „Ihr könnt mir gratulieren“, rief sie schon von der Garderobe her.

Ihr Vater kaute erst zu Ende. „Wozu?“

Ihre Mutter warf ein paar Dokumente auf den Tisch und sah ihn so unverwandt an, als verlangte sie mehr Haushaltsgeld. Er spießte noch eine Scheibe Speck auf und überflog die Papiere stirnrunzelnd, während er das Fleisch mit den Kiefern bearbeitete. Dann legte er sie auf den Tisch zurück.

„Warum hast du das getan?“, fragte er ruhig. „Warum hast du mich nicht darum gebeten?“

Hätte Eileen es nicht besser gewusst, es hätte gekränkt geklungen. Aber nichts und niemand konnte ihren Vater verletzen.

Ihre Mutter wirkte fast enttäuscht, dass er sie nicht anschrie. Sie nahm die Dokumente an sich und ging ins Schlafzimmer. Ein paar Minuten später schnappte ihr Vater sich den Hut und verschwand.

Eileen ging zu ihrer Mutter, die rauchend am Fenster stand, und setzte sich auf ihr Bett.

„Was ist los? Worum geht es überhaupt?“

„Da liegt meine Einbürgerungsurkunde.“ Ihre Mutter deutete auf die Frisierkommode. „Na los, sieh sie dir an.“ Eileen ging hinüber. „Ab heute bin ich Bürgerin der Vereinigten Staaten. Du kannst mir gratulieren.“

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Eileen.

Ihre Mutter zog bekümmert an der Zigarette und setzte ein halbherziges Lächeln auf. „Ich habe das schon vor Monaten in die Wege geleitet“, sagte sie, „ohne es deinem Vater zu erzählen. Ich wollte mit ihm hingehen und ihn überraschen. Es hätte ihm viel bedeutet, sich für mich bei der Vereidigung zu verbürgen. Aber dann wollte ich ihm wehtun und habe Cousin Danny mitgenommen.“

Als Eileen Dannys Namen auf der Urkunde entdeckte, nickte sie. Dies waren Dokumente, die Hunderte von Jahren archiviert wurden, bis zum Ende der Zivilisation.

„Jetzt würde ich es gern ungeschehen machen.“ Sie lachte reumütig. „Dein Vater legt viel Wert auf Rituale.“

Eileen war nicht sicher, was ihre Mutter damit sagen wollte. Wahrscheinlich, dass ihr Vater selbst kleinen Gesten große Bedeutung beimaß. Sie hatte es ja mit eigenen Augen gesehen: Wie er einen Mann, der zu viel getrunken hatte, so unauffällig am Ellbogen nahm und gegen den Bartresen lehnte, damit er nicht umkippte, dass dieser es gar nicht bemerkte. Er warf nie ein Bierglas um oder verschüttete auch nur das winzigste Tröpfchen Whiskey. Seine Haare waren immer akkurat gekämmt, keine Strähne, wo sie nicht hingehörte. Sie hatte ihn manchmal auf Beerdigungen den Sarg tragen sehen, und ihr war es so vorgekommen, als sei es für ihn das Wichtigste auf der Welt, den Blick nach vorn zu richten, sich gerade zu halten und den Verstorbenen mit gemessenen Schritten zu den Klängen eines Dudelsacks die Kirchenstufen hinunterzutragen. Auch deswegen traten die Männer so entschieden für ihn ein. Eigentlich tat ihre Mutter das ja auch.

„Verlieb dich bloß nie“, sagte ihre Mutter und legte die Dokumente in dieselbe Schublade, in der sie früher den Ring aufbewahrt hatte. „Das bricht dir nur das Herz.“


2

Im Frühjahr 1952 verkündete ihre Mutter, dass sie schwanger war. Eileen staunte, denn sie hatte ihre Eltern nie auch nur Händchen halten sehen. Hätte sie nicht von ihrer Tante Kitty gewusst, dass die beiden sich aus einem irischen Tanzlokal kannten, wäre es für Eileen vorstellbar gewesen, dass ihre Eltern sich nie berührten. Doch jetzt war ihre Mutter schwanger. Wie andere Frauen. Die Welt steckte voller Geheimnisse.

Ihre Mutter kündigte den Job bei Bulova und strickte eine Babydecke. Als der letzte Wollfaden vernäht war, kam eine Mütze an die Reihe, der ein Pullover und Babyschühchen folgten. Alles in Kalkweiß. Sie verstaute die winzigen Kleidungsstücke in einer Schublade der Vitrine. Sie waren beinahe professionell gestrickt, engmaschig und in akkuraten Reihen. Eileen hatte nicht geahnt, dass ihre Mutter überhaupt stricken konnte, und hätte gerne gewusst, ob sie vielleicht schon in Irland Kleider für die Familie oder zum Verkauf angefertigt hatte, war aber schlau genug, nicht danach zu fragen. Sie brachte es auch nicht über sich, sie um Erlaubnis zu bitten, über die runde Wölbung ihres Bauches streicheln zu dürfen. Am nächsten kam sie dem Baby, wenn sie die Stricksachen in der Schublade betrachtete, über die glatten Maschen strich und sie an ihr Gesicht schmiegte.

Eines Abends, nachdem ihre Mutter zu Bett gegangen war, nahm sie die noch warmen Stricknadeln in die Hand, zwischen denen das zweite Schühchen baumelte, und versuchte sich das Baby vorzustellen, das ihr dabei helfen würde, die Wohnung mit Leben zu erfüllen. Sie würde es mit Küssen überhäufen. Aber immer schob sich das Bild ihrer Mutter davor – mit der skeptischen Miene, die sie zur Schau trug, wenn Eileen etwas Zärtlichkeit von ihr einforderte. Sie versenkte sich so lange in diese Vorstellung, bis das Gesicht ihrer Mutter von dem eines freudestrahlend jauchzenden Babys abgelöst wurde, und in dem Moment beschloss sie, dass ihre Beziehung zu ihm nichts mit ihren Eltern zu tun haben würde.

Eileen war so begeistert von der Aussicht, bald ein Geschwisterchen zu haben, dass sie körperlich zu spüren glaubte, wie ihr das Herz brach, als ihr Vater ihr mitteilte, dass ihre Mutter eine Fehlgeburt erlitten hatte. Weil auch eine Ausschabung die Blutung nicht stillen konnte, mussten die Ärzte ihr die Gebärmutter entfernen.

Danach bekam sie eine Blasenentzündung, gegen die sie schwefelhaltige Medikamente nehmen musste und an der sie beinahe starb. Da Kinder im Krankenhaus nicht gerne gesehen wurden, durfte Eileen ihre Mutter nicht einmal jeden Monat besuchen. In dieser Zeit, die sich über viele Wochen und schließlich weit über ein halbes Jahr hinzog, erwähnte ihr Vater ihre Mutter so gut wie nie. Wenn er Eileen mitnehmen wollte, sagte er irgendetwas Nebulöses wie: „Mach dich fertig. Wir gehen los.“ Von den Besuchen abgesehen war es, als sei ihre Mutter aus ihrem Leben getilgt worden.

Eileen fand schnell heraus, dass sie nicht von ihr sprechen sollte. Aber eines Abends, zwei Wochen nach Beginn der neuen Zeitrechnung, tat sie es aus Neugier auf die Reaktion ihres Vaters dennoch ein paarmal kurz hintereinander. „Das reicht jetzt“, blaffte er sie an und stand auf. Nur mit Mühe hielt er seine Gefühle im Zaum. „Spül das Geschirr ab.“ Er ging hinaus, als sei es zu quälend, in einem Raum zu bleiben, wo von ihrer Mutter die Rede gewesen war. Dabei stritten sie sich doch dauernd! Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen würde sie wohl nie verstehen.

Kochen und Saubermachen war von jetzt an ihre Sache. Ihr Vater ließ ihr Geld zum Einkaufen und für den Waschsalon da. Um frisches Gemüse zu besorgen, fuhr sie mit dem Rad zu einem der letzten Bauernhöfe in der Umgebung, und bald kochte sie die Gerichte nach, bei deren Zubereitung sie ihrer Mutter zugesehen hatte: geschmortes Rindfleisch mit Karotten und grünen Bohnen, marinierte Steaks, Sodabrot, Lammkoteletts mit Ofenkartoffeln. Sie lieh sich ein Kochbuch aus der Bücherei und wurde wagemutiger. Einmal gab sie sich viel Mühe mit einer Lasagne und als sie zu flüssig wurde, schlug sie mit der Faust auf die Arbeitsplatte.

Wenn sie mit ihren Hausaufgaben im gedämpften Schein der Tischlampe fertig war, baute sie Kartenhäuser auf dem Boden. Oder sie ging nach oben zu den Schmidts und staunte über die Mütter im Fernsehen, die immer lächelten, über Väter, die die Zeitung beiseitelegten, wenn ihre Kinder etwas von ihnen wollten.

In der Schule wusste sie die Antworten meistens schon, ehe andere Mädchen die Hände hoben, aber sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich lenken. Wenn sie einen Wunsch freigehabt hätte, hätte sie sich gewünscht, sich unsichtbar machen zu können.

Eines Tages nahm ihr Vater sie mit nach Jackson Heights zu einem riesigen Komplex von Eigentumswohnungen, der die gesamte Breite und fast die ganze Länge eines Blocks einnahm. Der Hausmeister, ein Freund ihres Vaters, wohnte im Keller, und aus dem vergitterten Küchenfenster sah man von unten auf die Grasnarbe, auf einen blendend grünen Rasen. Sie bat darum, hinausgehen zu dürfen. „Solange du keinen Fuß auf den Rasen setzt“, ermahnte er sie. „Selbst die Leute, die hier wohnen, dürfen das nicht. Sie zahlen mir viel Geld dafür, dass er unbenutzt bleibt.“ Aus irgendeinem, ihr unbekannten Grund lachten die Männer darüber.

Die ineinander übergehenden Gebäude rahmten eine ausgedehnte Rasenfläche ein, die von einem niedrigen gusseisernen Zaun umgeben war. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu überspringen. Außen um den Rasen und einmal quer hindurch zog sich ein gepflasterter Pfad. Sie folgte seinem Verlauf erst um das äußere große Quadrat und danach um die beiden kleineren, lauschte dem Zwitschern der Vögel und dem Rascheln der Blätter im Wind. Gaslampen warteten in Reih und Glied auf den Abend, an dem sie wieder über den Wohlstand der gepflegten Anlage wachen würden. Ein namenloser Frieden senkte sich auf sie. Hier gab es keine vorbeirasenden Autos, keine Leute, die Einkaufswagen vor sich herschoben. Eine alte Dame winkte ihr zu, bevor sie in einem Hauseingang verschwand. Eileen sah in gardinengesäumte Fenster und glaubte, hier draußen zufrieden sein zu können. Sie brauchte auch keinen Fuß auf den Rasen zu setzen. Vielleicht hätte sie das Glück, dass jemand sie mit nach oben nahm, von wo aus sie die ganze Rasenfläche überblicken könnte. Im ersten Stock erhellten Lampen ein Esszimmer; sie blieb stehen, starrte auf eine gediegene Schrankwand, eine Standuhr, eine Schale auf dem Esstisch. Sie konnte nur erraten, was darin war: Es war bestimmt ihr Lieblingsobst.

Die Leute, die in diesem Komplex lebten, hatten etwas ganz Wesentliches herausgefunden, und sie war auf ihr Geheimnis gestoßen. Sie begriff jetzt, dass manche Orte mehr und andere weniger Glück verhießen. Wusste man das nicht, konnte man sich dort, wo man lebte, zufriedengeben. Es musste noch mehr Siedlungen wie diese geben, versteckt hinter hohen Mauern oder dichten Hecken, in denen die Menschen ihre Geheimnisse für sich behalten konnten.

Als die Sohlen ihrer Schuhe durchgelaufen waren, brachte ihr Vater ihr in seiner unfassbaren Unkenntnis weiblicher Bedürfnisse neue, schlammfarbene mit, die Eileen auf der Stelle als Jungenschuhe identifizierte. Sie weigerte sich, sie zu tragen, aber ihr Vater konfiszierte die alten, und so blieb ihr keine Wahl. Am nächsten Abend beschwerte sie sich darüber, dass die anderen Mädchen sie ausgelacht hatten, aber ihr Vater sagte nur: „Sie bedecken deine Füße und halten sie warm.“ In ihrem Alter wäre er dankbar für ein gebrauchtes Paar gewesen, von einem neuen ganz zu schweigen.

„Wenn meine Mutter gesund wäre“, sagte sie erbittert, „würde sie mich nicht zwingen, sie anzuziehen.“

„Aber sie ist nicht gesund. Und sie ist auch nicht hier.“

Das Beben seiner Stimme ängstigte sie dermaßen, dass sie nicht weiter protestierte. Am folgenden Abend brachte er ihr unwahrscheinlich zierliche, perlmuttern schimmernde Schuhe mit.

„Und damit hat sich das“, sagte er.

Mr Kehoe kam zwar immer spät nach Hause, wirkte allerdings nie betrunken. Er war stets von ausgesuchter Höflichkeit. Obwohl er seit Eileens zweitem Lebensjahr bei ihnen wohnte, kam es ihr so vor, als wäre er erst vor Kurzem eingezogen.

Es machte ihr Spaß, für ihn mitzukochen. Wenn sie mit einem Teller anklopfte, öffnete er lächelnd und nahm ihn dankbar entgegen. Ihr Vater grummelte etwas von einem Kostentgelt.

Durch Mr Kehoes volles graues Haar zog sich eine schwarze, wie mit einer Teerquaste gestrichene Schliere. Wenn er sein Tweedjackett mit den abgetragenen Ärmelaufschlägen ablegte, krempelte er die Hemdsärmel hoch und lockerte die Krawatte.

Furchterregende Hustenanfälle schüttelten ihn. An einem Abend klopfte sie mit Tee, an einem anderen mit Hustensirup an seine Tür.

„Ich bekomme einfach nicht genug Luft“, sagte er. „Ich muss längere Spaziergänge machen.“

Doch selbst wenn ihn die schlimmsten Hustenanfälle beutelten, gelang es ihm noch irgendwie, Klarinette zu spielen. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, zu verbergen, dass sie ihm zuhörte, sondern setzte sich neben seine Tür, lehnte sich an die Wand und blätterte in ihren Schulbüchern. Sie war abends so allein, dass sie es nicht mehr einsah, sich dafür zu entschuldigen. Manchmal pfiff sie sogar mit.

Eines Abends saß ihr Vater mit bedrücktem Gesicht im Wohnzimmer. Eileen machte einen Bogen um ihn und nahm ihren Stammplatz ein. Die Rohre schepperten im Gebläse der Heizungsluft – ein beinah harmonisches Zusammenspiel mit den Klarinettenklängen. Sie hob den Kopf und begegnete dem unverwandten Blick ihres Vaters. Er sah sie nie direkt an. Mürrisch vertiefte sie sich wieder in die Grimm'schen Märchen mit den wunderschönen Illustrationen. Als sie ihrem Vater am Vortag von Mr Kehoes Geschenk erzählt hatte, war er sehr verärgert gewesen und hatte gleich darauf bei seinem Untermieter geklopft und ihm Geld dafür gegeben.

Sie war ganz in das „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ versunken, als ihr Vater sie aufscheuchte. Kaum war sie aufgesprungen, da riss er schon die Tür auf und herrschte Mr Kehoe an, auf der Stelle mit dem Krach aufzuhören. Mr Kehoe entschuldigte sich für die Störung – dabei wusste Eileen, dass man sein Spiel im Wohnzimmer kaum hörte.

Ihr Vater machte Anstalten, Mr Kehoe die Klarinette zu entreißen, doch der setzte sich zur Wehr und umklammerte sie so fest, dass er schließlich ihre Einzelteile in den Händen hielt und heftig hustend zurücktaumelte. Danach marschierte ihr Vater in die Küche und drehte das Radio so laut auf, dass die Nachbarn gegen die Decke hämmerten.

Als sie am nächsten Tag nach Hause kam, war Mr Kehoe verschwunden.

Sie sprach fast eine Woche nicht mit ihrem Vater. Sie drückten sich wortlos aneinander vorbei wie ein altes Ehepaar, bis er sie im Flur zur Rede stellte.

„Er musste sowieso gehen“, sagte er. „Ich habe nur etwas nachgeholfen.“

„Aber er konnte nirgends hin!“

„Deine Mutter kommt zurück.“

Das war aufregend, aber auch beunruhigend. Sie war schon fast davon ausgegangen, dass ihre Mutter nie mehr nach Hause zurückkommen würde. Sie würde den Haushalt wieder aus den Händen geben müssen. Und sie hätte ihren Vater nicht mehr für sich allein.

„Was hat das mit Mr Kehoe zu tun?“

„Du kannst jetzt deine Sachen rüberbringen.“

„Suchst du keinen neuen Untermieter?“

Er schüttelte den Kopf. Eine ungeahnte Perspektive eröffnete sich ihr.

„Ich kriege ein eigenes Zimmer?“, fragte sie begeistert.

Ihr Vater wich ihrem Blick aus. „Deine Mutter will, dass ihr beide drüben schlaft.“


3

Am Mittwoch nach Ostern des Jahres 1953 kam ihre Mutter nach acht Monaten aus dem Krankenhaus zurück. Näher als mit den getrennten Schlafzimmern würden ihre Eltern einer Scheidung nie kommen.

Ihre Mutter fand einen Job als Verkäuferin bei Loft's, einem feinen Konditor auf der Forty-Second Street, und kam jetzt oft betrunken nach Hause. Demonstrativ ließ Eileen das dreckige Geschirr im Spülbecken stehen und übersah die Kleiderhaufen in den Schlafzimmerecken. Doch die anderen Mädchen zogen sie mit ihren ungebügelten Blusen auf, und so musste sie die Hausarbeit wohl doch wieder selbst erledigen.

Ihre Mutter gewöhnte sich allmählich an, zu Hause zu trinken. Sie ließ sich in ihrer ganzen Länge auf das durchgesessene Sofa sinken, in der einen Hand ein Glas Scotch, in der anderen eine Zigarette, deren Aschewurm sich an der Spitze krümmte, als warte er auf den Mut, sich fallen zu lassen. Eileen starrte die bösartige Kreatur hilflos an. Obwohl ihre Mutter immer einen Aschenbecher auf dem Schoß hatte, fiel manchmal Glut auf die Kissen, die Eileen dann blitzschnell ausklopfte. Immer öfter schlief ihre Mutter auf der Couch ein, aber in welcher Verfassung sie auch sein mochte, am folgenden Tag ging sie stets zur Arbeit.

Im Sommer kaufte sie bei Stevens auf dem Queens Boulevard eine dieser Klimaanlagen, die man ins Fenster klemmte. Sie brachte den Paketausfahrer dazu, sie in dem Schlafzimmer einzubauen, das sie sich mit Eileen teilte. Auf ihrer Etage besaß sonst niemand eine Klimaanlage. Sie lud Mrs Grady und Mrs Long ein und führte sie ins Schlafzimmer, wo sie in dem unentwegten Luftstrom des Gebläses standen und staunten, als hätten sie den Erlöser vor sich.

Wenn beide Eltern zu Hause waren, herrschte angespannter Waffenstillstand. Ihre Mutter saß bei geschlossener Schlafzimmertür am Fenster und schaute zu, wie sich die Abenddämmerung auf die Straße senkte. Nach dem Essen brachte Eileen ihr Tee. Ihr Vater hatte sich am Küchentisch eingerichtet, paffte seine Pfeife und hörte sich Gaelic Football im Radio an. Immerhin lebten sie unter ein und demselben Dach.

Die langen Zugfahrten ihrer Mutter beunruhigten Eileen. Stundenlang saß sie wartend am Küchentisch, die Wohnungstür im Blick, und stellte sich vor, wie ihre Mutter bewusstlos in irgendeiner dunklen Unterführung lag. Doch sobald sie hörte, dass das Bolzenschloss entriegelt wurde, stellte sie den Kessel auf oder wusch das Geschirr ab. Ihre Mutter sollte nicht merken, dass sie auf sie wartete: Diese Genugtuung gönnte Eileen ihr nicht.

Eines Abends, nachdem sie gekocht und die Töpfe und Pfannen abgespült hatte, kuschelte sie sich erschöpft aufs Sofa. Ihre Mutter starrte rauchend in die Luft. Zaghaft legte Eileen ihr den Kopf in den Schoß, hielt mucksmäuschenstill und schaute zu, wie der Rauch den blassen Lippen ihrer Mutter entströmte und die Asche länger wurde. Von einigen wenigen Falten um die Mundwinkel und ein paar aufgeblühten Äderchen auf den Wangen abgesehen, war ihre Haut immer noch zart und porzellanweiß, und sie hatte immer noch diese sensationellen Lippen. Nur ihre nikotingelben Zähne deuteten auf einen gewissen Verschleiß.

„Warum nimmst du mich nie in den Arm? Warum küsst du mich nie wie die Mütter aus dem Fernsehen?“

Eileen machte sich auf eine scharfe Antwort gefasst, aber ihre Mutter drückte nur die Zigarette aus und griff nach der Packung, um sich schweigend eine neue anzustecken.

„Findest du nicht, dass du dafür schon zu alt bist?“, fragte ihre Mutter sie endlich, schob sie beiseite und stand auf, um sich einen Doppelten einzugießen.

„Ich war anders als dein Vater. Ich konnte es gar nicht abwarten, der Farm den Rücken zu kehren. Als ich meine Tasche packte, sagte mein Vater zu meiner Mutter: ›Deirdre, lass sie ziehen. Das ist kein Land für junge Leute.‹ Da war ich achtzehn. Ich war auf der Suche nach Arkadien, doch was ich fand, war Hausarbeit auf Long Island. Ich hatte so lange Arbeitszeiten, dass man mich für somnambul halten konnte. Som-nam-bul. Wahrscheinlich weißt du nicht, was das bedeutet.“

Was Eileen genau wusste, war, dass ihre Mutter sich wieder einmal in einen ihrer alkoholgetränkten Monologe von erbitterter Eloquenz gestürzt hatte. Eileen hörte ihr still zu.

„Beim Saubermachen habe ich mir oft vorgestellt, ich würde in den großen Häusern wohnen. Am liebsten habe ich Fenster geputzt, was eigentlich niemand gerne macht, denn dabei konnte ich mich an den sanft geschwungenen Hügeln mit ihren makellosen Rasendecken sattsehen. Und die Tennisplätze hatten es mir angetan. Absolut eben, nicht der kleinste Zweig lag herum. Sie evozierten – tja, was? – das Bändigen des Chaos. Ich fand Gefallen an den windgepeitschten Dünen, der Gischt der anbrandenden Wellen, den Segelbooten an den Stegen. Und wenn ich hinausgegangen bin, um die andere Seite abzuledern, konnte ich sehen, wie sich Frauen auf Diwanen räkelten, und mir kamen satte Katzen mit dem Bauch voller lauwarmer Milch in den Sinn. Ich habe ihnen ihren Müßiggang nicht missgönnt. Wenn ich sie gewesen wäre, hätte ich mich gleich nach dem Aufstehen auf so einem Diwan ausgestreckt, bis es für mich an der Zeit gewesen wäre …“, ihre Mutter machte eine träge Geste, die Eileen an den Sensenmann denken ließ, „… mich auf seidene Laken zu betten.“

„Hört sich gut an.“

„Es war nicht gut“, sagte ihre Mutter barsch, nachdem sie den Faden wiedergefunden hatte. „Es war grandios. Das war's.“

Ein paar Tage vor Weihnachten lud ihre Mutter Eileen ins Loft's ein. Als Eileen dort kurz vor dem Ende ihrer Schicht eintraf, wirkte ihre Mutter dermaßen gelassen und gefasst, dass man nie auf den Gedanken gekommen wäre, sie könnte eine schwere Trinkerin sein. Staunend schlenderte Eileen zwischen den Vitrinen mit glasierten Pralinés, gepuderten Plätzchen und erlesenem Konfekt herum.

Bevor ihre Mutter Schluss hatte, schenkte sie ihr eine Schachtel Trüffel. Dann bummelten sie zur Fifth Avenue und die Thirty-Ninth Street hinunter und sahen sich die Schaufenster von Lord & Taylor an, die Eileen nur aus der Zeitung kannte. Beim Anblick der Dekorationen mit den behaglich beleuchteten Kaminen und seidenweich gepolsterten Miniaturmöbeln überkam sie dasselbe Gefühl wie damals, als sie vor dem gepflegten Rasen gestanden und in die heile Welt der Gartenwohnungen gespäht hatte. Prächtige Vorhänge umrahmten ein Gemälde, in das sie am liebsten hineingeklettert wäre. Es war zwar windig, aber nicht zu kalt. Der frische Geruch des Winters prickelte ihr in der Nase, und das schwindende Tageslicht verlieh den vornehmen Straßen dieselbe verzauberte Atmosphäre wie den Schaufenstern. Glücklich malte sie sich aus, wie die Vorübergehenden in ihnen ein ganz normales Mutter-Tochter-Gespann bei einem alltäglichen Einkaufsbummel wahrnehmen mussten, und versuchte an ihren Mienen abzulesen, ob sie wohl wirklich dachten: Was für eine nette kleine Familie.

„Weihnachten wird bei uns ganz groß gefeiert“, teilte ihre Mutter ihr auf dem Heimweg in der U-Bahn mit. „Das kannst du mir glauben. Was bei uns auch sonst los sein mag. Selbst wenn du an der Schwelle des Todes stehen würdest, es wäre mir gleich.“

An dem Abend deckte ihre Mutter sie das erste Mal zu, seit sie aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Als Eileen mitten in der Nacht aufwachte und sich allein im Zimmer fand, kroch sie aus dem Bett. Ihre Mutter saß auf der Couch. Einen schrecklichen Augenblick lang hielt Eileen sie für tot. Der Kopf war ihr in den Nacken gefallen, ihr Mund stand offen, und sie umklammerte ein leeres Glas. Eileen näherte sich beklommen, doch als sie sah, dass ihre Brust sich hob und senkte, nahm sie ihr vorsichtig, um sie nicht zu wecken, den Aschenbecher vom Schoß und das Glas aus der Hand und stellte beides ins Spülbecken. Dann legte sie ihr die Bettdecke über und ließ die Schlafzimmertür auf, um ihre Mutter im Auge behalten zu können.

Sie erhielt ein Paket, mit einer Klarinettenschule und Mr Kehoes Instrument. Dem beigefügten Schreiben eines Anwalts zufolge war er an Lungenkrebs gestorben und hatte ihr beides vererbt. Sie nahm die Klarinette mit ins Bett, doch eines Morgens entdeckte ihre Mutter sie dort und verbot es. Sie nannte es morbide. Eileen versuchte ein paarmal, darauf zu spielen, aber die Geräusche, die sie hervorbrachte, deprimierten sie nur. Wenn sie an Mr Kehoe dachte, hatte sie die leisen, sinnlichen Klänge aus seinem Zimmer noch genau im Ohr. Und wenn sie sich mit geschlossenen Augen konzentrierte, hörte sie ganze Stücke, als habe die Musik nur darauf gewartet, ihrem Gedächtnis entlockt zu werden. Aber auf dem Instrument gelang ihr noch nicht einmal eine kurze Melodie. Schließlich zerlegte sie die Klarinette in ihre Einzelteile und betrachtete sie eine Weile, bevor sie sie wieder in den weichen rosa Filz einpasste, mit dem der Kasten ausgeschlagen war. Sie brauchte nicht auf Mr Kehoes Klarinette zu spielen, sie schätzte sie auch so. Die glatten Teile waren meisterhaft gearbeitet, die polierten Klappen schimmerten, das Instrument lag ihr gut in der Hand. Immer wieder drückte sie die Klappen herunter; sie bewegten sich geschmeidig und schnellten mit wunderbarer Bestimmtheit zurück. Mr Kehoes Mundstück war schnabelartig. Es fühlte sich gut an, die Lippen darum zu schließen und ganz leicht darauf zu beißen.

Die Klarinette war das Schönste, was sie besaß, das Schönste, was ihre Familie besaß. Sie fand, dass sie nicht in diese Wohnung gehörte. Später, wenn sie groß war, würde sie in so einem herrlichen Haus leben, dass die Klarinette darin gar nicht auffiel. Das wäre in Mr Kehoes Sinn gewesen. Sie würde einen Mann heiraten, der ihr das ermöglichte.

Mit dreizehn Jahren begann sie, im Waschsalon zu arbeiten. Als sie zum ersten Mal ausgezahlt wurde, rieb sie die Scheine eine Weile zwischen Zeigefinger und Daumen, breitete sie vor sich auf dem Tisch aus und rechnete ein bisschen. Wenn sie weiterarbeitete und jeden Dollar sparte, den sie erübrigen konnte, würde sie rein gar nichts mehr von ihren Eltern brauchen, wenn sie mit der Schule fertig war. Eine aufregende Perspektive, die allerdings bald in Traurigkeit umschlug. Sie wollte nicht daran denken, dass sie irgendwann nichts mehr von ihnen bräuchte. Sie würde das Geld für sie sparen.

Ihre Mutter trank mehr, als ihr Vater es je getan hatte. Vielleicht wollte sie die verlorene Zeit wettmachen. Eileen gewöhnte sich an, ihre Bedürfnisse schon im Voraus zu erahnen, statt erst zu reagieren, wenn es so weit war. Sie machte Kaffee, hatte immer Aspirin parat und deckte sie zu, wenn sie auf der Couch einschlief.

Eines Nachts kam Eileen ins Wohnzimmer und sah, dass der Kopf ihrer Mutter auf und ab wippte, wie so oft, wenn sie gegen den Schlaf ankämpfte und sich an die allerletzten Augenblicke bewusster Trunkenheit klammerte. Wenn sie in diesem Zustand war, fiel es Eileen am leichtesten, ihr Gesellschaft zu leisten, denn sie war schon zu weggetreten, um ihr noch etwas Scharfzüngiges oder Vernichtendes an den Kopf zu werfen, quittierte Eileens Anwesenheit aber mit einem kaum merklichen Flattern der Augenlider.

Doch als Eileen sich zu ihr setzte, spürte sie, dass die Kissen feucht waren, und glaubte zuerst, ihre Mutter hätte einen Drink verschüttet.

Sie fürchtete sich davor, sie umzuziehen, denn es war nicht ausgeschlossen, dass ihre Mutter zu sich kam und es merkte. Doch weil sie sie schließlich auch nicht die ganze Nacht auf dem durchnässten Sofa sitzen lassen konnte, zog sie ihrer Mutter die nassen Sachen aus, legte ihr einen Bademantel um die Schultern und setzte sie einigermaßen bequem auf den trockenen Teil der Couch. Sie ins Bett zu bringen, würde viel schwerer werden.

Eileen ging vor ihr in die Hocke, lotste Kopf und Schultern ihrer Mutter auf ihren Schoß, von dort auf den Boden und zerrte sie dann ganz hinunter. Als Nächstes fasste sie sie unter den Achseln und schleifte ihre vor sich hin murmelnde Mutter ins Schlafzimmer. Doch sosehr sie sich auch abmühte, sie schaffte es nicht, sie ins Bett zu hieven. Ihre Mutter war aufgewacht und wehrte sich dagegen.

„Ich will dir hochhelfen, Ma“, drängte sie.

„Ich schlafe, wo ich bin.“

„Du kannst aber nicht auf dem Boden schlafen.“

„Kann ich wohl“, sagte sie in einem weichen, melodischen Singsang. Wenn sie betrunken oder wütend war, schlug ihr irischer Akzent durch.

„Das ist zu kalt.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Geht leider nicht.“

Eileen versuchte es noch eine ganze Weile, gab es schließlich auf und legte sich ins Bett. Als ihr Vater von der Arbeit in der Bar nach Hause kam, wachte sie auf und ging in die Küche. Er saß am Tisch, vor sich ein Glas Wasser.

„Kannst du Ma ins Bett bringen? Sie liegt auf dem Boden.“

Er stand wortlos auf und folgte ihr. Ihr wurde bewusst, dass sie erst einmal gesehen hatte, dass ihr Vater dieses Zimmer betrat – in Mr Kehoes letzter Nacht bei ihnen. Im Lichtstrahl aus der Küche konnte man ihre Mutter für einen Haufen Bettlaken halten.

Eileen beobachtete, wie überraschend mühelos er ihre Mutter hochhob, als hätte er sie auch einhändig tragen können. Er umfasste ihren Hinterkopf behutsam. Ihre langen Gliedmaßen hingen schlaff hinab; sie schlief wieder tief und fest. Er ließ sich Zeit und sah lange auf sie hinab, als sie im Bett lag. Eileen hörte, wie er leise „Bridgie“ flüsterte, eher zu sich selbst als zu ihr, bevor er die Decke über sie breitete und an den Schultern glattstrich.

„Geh wieder ins Bett“, sagte er und schloss die Tür hinter sich.

„Stellt euch Woodside voller Bäume vor“, sagte Schwester Mary Alice zu ihrer achten Klasse. „Stellt euch ein prächtiges, weitläufiges Anwesen auf mehr als vierzig Hektar mitten in der Natur vor. Und zwar genau hier, Kinder. Unser ganzes Viertel, jeder Quadratzentimeter davon, gehörte einst einer einzigen Familie, deren Wurzeln bis zu den Anfängen unseres Landes zurückreichen.“

Ein Müllwagen vor der Schule röhrte laut, und Schwester Mary wartete, bis er weitergefahren war. Die zusammengerollte Karte über der Tafel schaukelte vor und zurück, und Eileen stellte sich vor, wie sie der Nonne auf den Kopf donnerte.

„Der Enkel einer der ersten puritanischen Gründerväter aus Cambridge in Massachusetts baute hier ganz in der Nähe auf einem riesigen Grundstück einen Bauernhof.“ Die Nonne ging mit einem Buch durch die Reihen, das auf der Seite mit einer Abbildung des Hauses aufgeschlagen war. „Dessen Erben machten ein Herrenhaus daraus. Dieses Herrenhaus“ – sie spuckte das Wort förmlich aus – „hatte eine imposante Eingangshalle, von der ein großer Salon abging. An der rückwärtigen Seite gab es einen weiteren Salon mit einem gigantischen Kamin, eine beeindruckende Küche und selbst an der Hintertür war der Klopfer aus Messing. Neben dem Haus breitete sich ein Obstgarten aus.“ So nachdrücklich wie die Nonne die Besonderheiten des Hauses aufzählte, hätte man denken können, sie trüge Beweismaterial vor Gericht zusammen. „Ein paar Generationen später verkaufte die Familie es an einen in Manhattan ansässigen Kaufmann aus South Carolina, der es als Wochenendhaus nutzte. Nach dem Ausbau der Zugstrecken in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ergriff ein Immobilienhändler seine Chance. Er ließ die Bäume roden, die Sümpfe trockenlegen, die Straßen bauen, auf denen ihr heute herumlauft, und unterteilte das Areal in tausende Grundstücke, die man in einem Losverfahren gewinnen konnte. So stieß er der Mittelklasse die Tür auf, denn man konnte sein Grundstück in monatlichen Raten von zehn Dollar abzahlen. Es wurde viel gebaut. Von dem Anwesen war nur noch das Haus geblieben und das wurde 1895 abgerissen, um Platz für eine Kirche zu schaffen – und schließlich auch für die Schule, in der ihr gerade sitzt.“

Eileen betrachtete gerade das missbilligende Ziffernblatt der Uhr an der Stirnseite des Klassenzimmers, als die Nonne mit dem Buch vor ihr stand. Gelangweilt warf sie einen Seitenblick auf die Bilder. Doch sowie sie erfasst hatte, was sie da sah, starrte sie gebannt darauf. Die Nonne wollte gerade weitergehen, aber Eileen bat sie, noch einen Moment zu bleiben.

„Die Queensboro Bridge wurde im Jahr 1909 fertiggestellt, der LIRR-Tunnel unter dem East River im darauffolgenden Jahr. Ab 1915 wurde die IRT-Flushing-Line stationsweise ausgebaut – die heutige Linie Sieben. Die Iren – eure Großeltern oder vielleicht auch eure Eltern – wandten den elenden Mietskasernen Manhattans den Rücken, überquerten in Scharen den Fluss und landeten in Woodside. Ihr müsst euch das vorstellen: zehn oder sogar zwanzig Menschen in einer Wohnung! Dann, 1924, die göttliche Vorsehung. Die Stadt beschloss den Bau von Sozialwohnungen und Häusern, um die Lage zu entschärfen.“ Die Nonne war wieder am Pult angekommen. Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel, als sie zum letzten Punkt ihrer Beweisführung vor den Geschworenen ansetzte. „Das sind die Wege des Herrn. Den Armen gibt er. Ist der Gedanke nicht wunderbar, dass ihr alle jetzt hier seid statt nur einer einzigen privilegierten Familie in einem Herrenhaus in den Wäldern? Stimmen Sie mir zu, Miss Tumulty?“

Eileen träumte von dem abgerissenen Haus, das sie auf den Bildern bewundert hatte. Bei der Frage der Nonne setzte sie sich kerzengerade auf. „Ja“, sagte sie. „Auf jeden Fall.“

Dabei dachte sie nur daran, was für eine Schande der Abriss eines solchen Herrenhauses war. Ein prachtvoller Herrensitz auf dem Land, ein riesiges Anwesen – was sollte daran auszusetzen sein?

„Überlegt euch doch mal“, sagte Schwester Mary und kam zum Schluss, „kein einziger von euch säße jetzt hier, wenn es diesen Besitz noch gäbe. Keiner von uns. Wir würden überhaupt nicht existieren.“

Eileen sah sich unter ihren Mitschülerinnen um und versuchte sich eine Welt vorzustellen, in der keine von ihnen am Leben wäre. Sie dachte an die kleine Wohnung ihrer Eltern. Würde wirklich etwas fehlen, wenn sie nie gebaut worden wäre?

Sie hatte ein Bild von sich vor Augen, wie sie sich lässig auf einer Couch in diesem Haus ausstreckte, in einem Folianten blätterte und ab und an den Blick über die Bäume vorm Fenster schweifen ließ. Irgendjemand musste doch in einem solchen Haus geboren werden. Warum hätte es nicht sie sein können?

Aber wenn sie dort schon nicht zur Welt gekommen wäre, sondern ganz woanders, hätte sie eben später eine Chance ergriffen, um in diesem Haus leben zu können, selbst wenn es keiner der anderen gelungen wäre.

An manchen Abenden besuchte sie ihre Tante Kitty und ihren viereinhalb Jahre jüngeren Cousin Pat, die in derselben Straße wohnten. Ihr Onkel Paddy, der ältere Bruder ihres Vaters, war gestorben, als Pat zwei war, und Pat sah zu ihrem Vater auf, als wäre er sein eigener.

Eileen hatte Pat von klein auf vorgelesen. Sie hatte dafür gesorgt, dass er lesen konnte, bevor er eingeschult wurde, und schreiben konnte er bereits, als die anderen Kinder noch das Alphabet lernten. Er war blitzgescheit, was sich aber nicht in seinen Noten spiegelte, weil er nie Hausaufgaben machte. Er verschlang Bücher nur, so lange sie nichts mit der Schule zu tun hatten.

Sie brachte ihn dazu, sich mit ihr an den Küchentisch zu setzen und seine Schulbücher hervorzuholen, und erklärte ihm, dass er Einsen schreiben müsse, alles andere sei inakzeptabel. Mit ihrer Hilfe könne er alles erreichen. Er müsse Erfolg haben und reich genug werden, um sich ein großes Haus zu bauen. Sie würde in einem Seitenflügel wohnen. Er erledigte seine Hausaufgaben in Windeseile und vertiefte sich wieder in seine Abenteuergeschichten. Wenn er groß war, wollte er einen Lieferwagen von Schaefer fahren und sonst gar nichts.

Die morgendliche Disziplin ihrer Mutter, die Eileen am Anfang so beeindruckt hatte, schwand zusehends, und als Eileen in der neunten Klasse war – sie hatte ein Stipendium an der St. Helena High School in der Bronx erhalten –, löste sie sich über Nacht in Luft auf. Eines Morgens kam ihre Mutter zu spät ins Loft's. Das wiederholte sich ein paar Tage darauf, und dann ging sie gar nicht mehr hin. Einmal wurde sie im Hausflur ohnmächtig und musste von Polizisten hochgetragen werden. Nachdem sie weg waren – weil ihr Vater nun mal der war, der er war, wurde nichts zu Protokoll genommen –, sprach Eileen ihre Mutter nicht an und versuchte auch gar nicht erst, sie umzuziehen, denn das wäre ihrer Mutter peinlich gewesen. Eileen fürchtete sich immer noch vor ihrem Zorn, selbst wenn sie schlaff wie ein Mehlsack in einer Ecke lag. Sie erinnerte sich nur noch allzu genau daran, wie sie früher von ihr mit dem Kleiderbügel geschlagen wurde, wenn sie ungezogen gewesen war.

Als sie am nächsten Tag am Küchentisch saßen und ihre Mutter ermattet und schweigend an ihrer Zigarette zog, eröffnete Eileen ihr, dass sie die Anonymen Alkoholiker anrufen würde. Sie verheimlichte ihr aber, dass die Telefonnummer von ihrer Tante Kitty war, und dass sie auch mit anderen in der Familie über das Problem ihrer Mutter gesprochen hatte.

„Mach, was du willst“, sagte sie nur, war dann aber doch überrascht, als Eileen tatsächlich zum Hörer griff. Der Frau am anderen Ende sagte sie, dass ihre Mutter Hilfe brauche. Sie würde gerne etwas für sie tun, antwortete die Frau, aber ihre Mutter müsse selbst darum bitten.

Eileen wurde das Herz schwer. „Das macht sie bestimmt nicht.“ Ihr standen Tränen in den Augen. Sie spürte die wilden Blicke ihrer Mutter und wischte die Tränen schnell weg.

„Sie muss uns selbst darum bitten, sonst können wir nichts unternehmen. Es tut mir wirklich leid. Versuch es weiter. Es gibt Leute, mit denen du reden kannst.“

„Was sagen die?“, fragte ihre Mutter und band den Gürtel ihres Morgenmantels fester.

Eileen legte die Hand auf den Hörer und erklärte es ihr.

„Gib mir das verdammte Telefon.“ Ihre Mutter drückte die Zigarette aus. „Ich brauche Hilfe. Sie haben doch gehört, was das Mädchen gesagt hat! Verdammt noch mal, ich brauche Hilfe.“

Am folgenden Abend kamen zwei Männer, um ihre Mutter kennenzulernen. Noch nie war Eileen so dankbar gewesen, dass ihr Vater nicht zu Hause war. Sie setzte sich dazu, als sie ihrer Mutter erklärten, dass sie sie im Knickerbocker Hospital zur stationären Behandlung anmelden würden. Sie wollten gleich am nächsten Abend wiederkommen, um sie dorthin zu bringen.

Kaum waren die Männer gegangen, nahm ihre Mutter die Flasche vom Regal, setzte sich auf die Couch und schenkte sich immer wieder ein wenig nach. Sie trank den Whiskey so bedächtig, als handele es sich um Medizin. Da die Männer ihrer Mutter gesagt hatten, sie solle sich auf zwei Wochen einstellen, packte Eileen eine kleine Reisetasche und schob sie unters Bett. Sie würde es ihrem Vater erklären, wenn es so weit wäre.

Während des ganzen Schultages machte sie sich Sorgen. Es lagen noch so viele Stunden vor der Fahrt ins Krankenhaus, dass alles Mögliche schiefgehen konnte. Doch als sie nach Hause kam, machte ihre Mutter einen guten Eindruck. In der Wohnung war es ruhig. Der Kessel stand schimmernd auf dem vierflammigen Herd, der Boden war frisch gewischt und die Jalousien ordentlich heruntergelassen. Eileen briet Würstchen mit Spiegeleiern. Ihre Mutter aß langsam. Als die Männer – beide waren heute im Anzug – um kurz vor sechs klingelten, ergab sich ihre Mutter in ihr Schicksal, ohne zu leugnen, dass sie diese Hilfe gewollt hatte. Der eigentümlich sanfte und bekümmerte Gesichtsausdruck, mit dem sie sich durch die Wohnung schleppte, um die letzten Sachen zusammenzusuchen – Zahnbürste, Portemonnaie, ein Buch –, ging Eileen zu Herzen.

Eileen fuhr mit ins Krankenhaus, danach setzten die beiden Männer sie wieder zu Hause ab. Der Fahrer parkte und machte keine Anstalten aufzustehen, aber der Beifahrer ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Sie stand vor ihm und wollte irgendetwas sagen, um ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, aber sie wusste nicht, was. Der Mann zog den Hut. Ein bedeutungsvolles Schweigen legte sich auf sie. Sie war froh, dass die beiden so wortkarg waren. Er reichte ihr eine Telefonnummer.

„Ruf an, wenn du Hilfe brauchst“, sagte er. „Jederzeit.“ Dann fuhren sie los.

Ihre Mutter blieb neun Tage im Krankenhaus. Nach ihrer Entlassung suchte sie sich einen Job als Putzfrau in mehreren Grundschulen in Bayside und ging regelmäßig zu den Anonymen Alkoholikern. Sie beklagte sich über den Fahrplan der Long Island Rail Road, doch Eileen glaubte, dass es eher die langen Strecken waren, die ihr zu schaffen machten, da sie ihr zu viel Zeit zum Grübeln ließen: Da sie nun solche weiten Zugfahrten auf sich nehmen musste, hatte sie es offensichtlich nicht gerade weit gebracht.

Eileen träumte davon, eine spektakuläre Reise auf eigene Faust zu machen. Als sie das Death Valley in Erdkunde durchnahmen und sie erfuhr, dass es der heißeste und trockenste Ort Nordamerikas war, nahm sie sich vor, einmal dort hinzufahren, auch wenn sie ihre Alabasterhaut nicht lange der Sonne aussetzen konnte, ohne einen schrecklichen Sonnenbrand davonzutragen. Sie glaubte, eine unermesslich weite Wüste wäre vielleicht der einzige Ort auf der Welt, an dem es ihr nichts ausmachte, ohne Gesellschaft auszukommen.

Matthew Thomas

Über Matthew Thomas

Biografie

Matthew Thomas, in der New Yorker Bronx geboren und in Queens aufgewachsen, studierte an der Universität Chicago und Kalifornien. Er lebt mit seiner Frau und Zwillingen in New Jersey. 10 Jahre schrieb der ehemalige Highschool-Lehrer an seinem ersten Roman, und wurde dann mit „Wir sind nicht wir“...

Pressestimmen
Heilbronner Stimme

„Ja, man sollte als Soundtrack zur Lektüre vielleicht Neil Young in Erwägung ziehen, all seine Lieder über die "Ordinary People", diese Otto-Normal-Menschen, die weder Lichtgestalt sind, noch einen Heiligenschein tragen. [...] Geschöpfen, denen Matthew Thomas in seinem Familienepos ein Denkmal setzt.“

rostfrei - Aktiv und Gesund Leben für Fortgeschrittene

„Ein großartiger Roman über die Belastbarkeit des Menschen.“

Junge Welt

„In seinem Romandebüt zeigt sich Matthew Thomas, der auf seine eigene Biographie zurückgreift, als kraftvoller Erzähler. Er schildert Eds allmählichen Verlust des Gedächtnisses und sein Abgleiten in einen für seine Familie unzugänglichen Raum mit großer Einfühlsamkeit.“

Süddeutsche Zeitung

„Aus seiner so kleinen, intimen Szene heraus und mit so wenigen, kurzen Wörtern so weit ausholen zu können, beweist, dass dies nicht nur ein dicker, sondern ein großer Roman und dass Matthew Thomas ein begnadeter Epiker ist.“

Bayerische Rundfunk 5

„'Wir sind nicht wir' ist ein Familienepos über drei Generationen. Und es ist ein Buch über eine starke Frau, eine Witwe, deren Mann noch lebt. ‚Wir sind nicht wir‘ von Matthew Thomas ist ein berührender Roman.“

WDR 5 "Scala"

„Ein bewegendes Buch. Man lernt etwas über das Leben dabei. Und wer es zuklappt, ist danach auch nicht mehr ganz er selbst. So wie das sein soll bei guter Literatur.“

Westdeutsche Zeitung (dpa)

„'Wir sind nicht wir' ist ein Familienepos aus der amerikanischen Mittelschicht, mitreißend und herzergreifend geschrieben.“

BUNTE

„Die Saga einer irischen Einwandererfamilie im New York des 20. Jahrhunderts – Kulisse für einen großartigen Gesellschafts- und Liebesroman – und der hat Bestsellerpotenzial.“

Glamour

„Manchmal erinnert die Heldin des Romans an Scarlett O’Hara in einer modernen 'Vom Winde verweht'-Version.“

Frankfurter Rundschau

„Matthew Thomas ist ein feiner Schilderer von Seelenzuständen und nie um ein klares Wort verlegen. Er erzählt gradlinig, realistisch, drastisch.“

hr 2 Kultur "Kulturfrühstück"

„Thomas macht etwas, was man nennen könnte – dem Leben bei seiner Arbeit zuschauen.“

NDR Kultur

„Thomas kann schreiben. Er ist ganz dicht bei seinen Helden, schildert akribisch genau ihren Alltag, findet poetische Bilder und Vergleiche. […] und wie er mit dem Thema Alzheimer umgeht, DAS kennt die Literatur SO bisher nicht.“

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