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Der Freud-Komplex

Der Freud-Komplex

Anthony D. Kauders
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Eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland

„Wie verhielten sich die Deutschen zur Lehre Freuds? Wie dachten sie über das Ich, das Unbewusste und die Sexualität? Und was verrät die Freud-Rezeption über die "Leit- und Menschenbilder, die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft"? Das versucht Anthony Kauders herauszufinden.“ - Ö1 "Kontext"

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Der Freud-Komplex — Inhalt

Die Deutschen auf der Couch

Die einen feierten Freud als Befreier von bürgerlichen Moralvorstellungen, die anderen beklagten seine Lehre als rationales Aufklärungsprojekt, das der deutschen Seele zutiefst fremd sei. Anthony D. Kauders legt in seinem Buch die Deutschen auf die Couch: Wie haben sie auf Freud und seine Ideen reagiert? Was verraten die Reaktionen über ihr Verhältnis zur Sexualität, zur Gewalt und die Vorstellungen vom „bürgerlichen Ich“, von Ohnmacht und Selbstbestimmung? Und wie haben sich die Einstellungen zur Psychoanalyse im Verlauf des 20. Jahrhunderts verändert? Der Autor zeigt auf verblüffende Weise, wie wir anhand der Auseinandersetzung mit Freud die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen der deutschen Gesellschaft rekonstruieren können. Ein überraschendes Sittengemälde und ein ebenso faszinierendes wie abgründiges Panorama der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 10.03.2014
400 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7702-8
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„Wie verhielten sich die Deutschen zur Lehre Freuds? Wie dachten sie über das Ich, das Unbewusste und die Sexualität? Und was verrät die Freud-Rezeption über die "Leit- und Menschenbilder, die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft"? Das versucht Anthony Kauders herauszufinden.“
Ö1 "Kontext"
„Der Autor zeigt auf verblüffende Weise, wie wir anhand der Auseinandersetzung mit Freud die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen der deutschen Gesellschaft rekonstruieren können. Ein überraschendes Sittengemälde und ein ebenso faszinierendes wie abgründiges Panorama der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.“
lernwelt.at
„Es ist nicht nur lese-, sondern auch seelen- freun(d)lich, wenn es ein Leseband gibt wie im tiefsinnigen Buch "Der Freud-Komplex" von Anthony D. Kauders. [...]. Ein stets aktuelles Diskursbuch zur Seelenlebensbetrachtung.“
kultur-punkt.ch
„Entstanden ist mit dem "Freud-Komplex" eine coole, anspruchsvolle und bis zur letzten Zeile spannende Analyse. [...]. Hier führt Kauders gelassen durch die teils abenteuerlichen antisemitischen Debatten um Ludwig Klages und C.G. Jung und arbeitet vor allem den antibürgerlichen Affekt des Nationalsozialismus heraus. [...]. Das souverän geschriebene und glänzend recherchierte Buch setzt allerdings, damit sich der Lesegenuss voll entfalten kann, Wissen voraus.“
Literaturen

Leseprobe zu „Der Freud-Komplex“

1

1913: Sexualität

Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gärt es im Deutschen Kaiserreich. Seit einigen Monaten sind die Sozialdemokraten stärkste Fraktion im Reichstag, was von konservativer Seite mit Argwohn beobachtet wird. Zwischen Deutschland und Großbritannien nehmen die Spannungen zu, nicht zuletzt wegen der Aufrüstung der deutschen Flotte. Gleichzeitig kommt das Militär durch Willkürakte in Verruf, was zum ersten Missbilligungsvotum gegen einen deutschen Reichskanzler führt. In Berlin gründet Rudolf Steiner die Anthroposophische [...]

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1

1913: Sexualität

Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gärt es im Deutschen Kaiserreich. Seit einigen Monaten sind die Sozialdemokraten stärkste Fraktion im Reichstag, was von konservativer Seite mit Argwohn beobachtet wird. Zwischen Deutschland und Großbritannien nehmen die Spannungen zu, nicht zuletzt wegen der Aufrüstung der deutschen Flotte. Gleichzeitig kommt das Militär durch Willkürakte in Verruf, was zum ersten Missbilligungsvotum gegen einen deutschen Reichskanzler führt. In Berlin gründet Rudolf Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn verlieben sich, die Künstlergruppe „Die Brücke“ löst sich auf. 1913 findet auch ein weniger spektakuläres Ereignis statt, das aber nicht minder „repräsentativ“ für die Zeit ist. In Breslau versammeln sich die Mitglieder des Deutschen Vereins für Psychiatrie, um ihre Jahresversammlung abzuhalten. Berühmte Forscherpersönlichkeiten kommen in der schlesischen Stadt zusammen, darunter Alois Alzheimer, Karl Bonhoeffer, Emil Kraepelin und Robert Gaupp. Das Thema des ersten Tages gilt einem Mann, der zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt ist, „eine Legende“ zu sein. Das Interesse an Sigmund Freuds Psychoanalyse zielt weder auf eine etablierte Wissenschaft noch auf einen anerkannten Wissenschaftler. Freud steht weder isoliert da, wie er selbst behauptete, noch ist er einer von vielen, wie spätere Kritiker glauben lassen wollen. Trotzdem ist Freud im Jahr 1913 in aller Munde.


Im späten Kaiserreich befassten sich ganz unterschiedliche Gruppen mit der Psychoanalyse, denen es um ganz unterschiedliche Fragen ging. Die Psychiater reagierten als Psychiater, die Jugendbewegten als Jugendbewegte, die Literaten als Literaten. Diejenigen, die sich etwas von der Psychoanalyse erhofften, pickten sich die Teile, die ihnen zusagten heraus – ob nun „Wahrhaftigkeit“, „Sublimierung“ oder „Sexualität“. Freuds Psychoanalyse war vor allem in einer Hinsicht verlockend: Sie versprach Schülern, Studenten, Bohemiens, Anarchisten und Expressionisten die Aussicht, sich von („unbewussten“) Autoritätsbildern zu lösen, seien diese in der Familie, in Bildungseinrichtungen oder in der Politik zu finden. Damit gab sie dem Wunsch Ausdruck, „Individualität“ und „Authentizität“ wiederherzustellen in einer Welt voller „heuchlerischer“, „ungesunder“ und „repressiver“ Regeln. Verlockend war sie aber auch aus einem weiteren Grund: Da die Wissenschaft über viel Prestige verfügte, konnte jeder, der die Psychoanalyse für sich entdeckte, auch an dieser Welt teilhaben. Franz Wedekind und August Strindberg hatten schon gegen die Welt der „Väter“ aufbegehrt, nun versprach Freud dasselbe im wissenschaftlichen Gewand. Dass sich bei Freud „Subjektivität“ und „Objektivität“, Hermeneutik und Naturwissenschaft nicht feindlich gegenüberstanden, machte für viele – übrigens bis heute – seinen Reiz aus.

Diese „mangelnde“ Abgrenzung war für andere jedoch Grund genug, die Psychoanalyse zurückzuweisen. Psychiater, Psychologen und Neurologen meinten, dass das eine (Deutung) mit dem anderen (Experiment) nichts zu tun habe. Ihnen war es relativ egal, ob bestimmte gesellschaftliche Konventionen dem Individuum schadeten oder nicht, solange ihr Wissenschaftsverständnis nicht infrage gestellt wurde. Nicht die von vielen mit der Psychoanalyse assoziierte Wahrhaftigkeit (in der Frage der Sexualität) war das Problem, sondern Freuds falsches Verständnis von der Wahrheit. So mussten sie seinen neuen Denkstil ablehnen, wollten sie nicht Teile ihres Denkstils aufgeben.

Freud war Wissenschaftler, also beginnt die Rezeption der Psychoanalyse nicht in den Teestuben Berlins oder den Salons Münchens. Aber auch auf den Fluren manch einer Universität oder manch einer psychiatrischer Klinik ging es verhältnismäßig hoch her, wenn das Thema Freud anstand. So nüchtern die wissenschaftliche Auseinandersetzung oft erscheinen mochte, bei den Reaktionen auf die Psychoanalyse ging es um nichts Geringeres als die Wahrheit. Am Anfang stand also die Frage: Hat Freud als Wissenschaftler recht?


Der Anlass


Schon mit dem ersten Satz seines berühmtesten Buches hat er es darauf angelegt. „Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche“, schreibt Freud, „glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben.“ Das wiederholt er später im Buch noch einmal, als er behauptet, ein „wissenschaftliches Verfahren der Traumdeutung“ vorlegen zu wollen. Was dann allerdings folgt, nachdem er sich zunächst mit der Literatur zum Thema auseinandergesetzt hat, ist für Neuropathologen doch ungewöhnlich: etwa die Behauptung, jeder Traum habe einen Sinn. Oder, noch gewagter: Jeder Traum sei eine Wunscherfüllung, die durch geheimnisvolle Prozesse, genannt Verdichtung und Verschiebung, daran gehindert werde, an die Oberfläche zu kommen. Und warum? Weil bestimmte Wünsche verdrängt worden seien. Aber nicht von irgendwelchen Wünschen ist die Rede: „Der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein.“ Allen Träumen ist gemeinsam: Sie fußen auf frühsten Fantasien, die bislang unentdeckt, weil vom Widerstand des Ichs zurückgehalten, im Unbewussten agieren. Und wir lernen weiter: Es geht um die Sexualität, um die Rivalität mit dem Vater beim Sohn, um den Wunsch, den Vater um die Ecke zu bringen, damit er selbst ungehinderten Zugang zur Mutter hat – oder, falls es sich um eine Tochter handelt, ungehinderten Zugang zum Vater. Jahre später, in einem 1910 erschienen Aufsatz, wird Freud dieses Beziehungsgeflecht als „Ödipuskomplex“ bezeichnen.

Um jedoch alle diese Dinge aufzudecken, bedarf es eines besonderen Trainings, einer besonderen Technik und einiger Erfahrung. Während das Training, die sogenannte Lehranalyse, erst in den Zwanzigerjahren institutionalisiert wird, beschreibt Freud die Technik, die „freie Assoziation“, als an sich wissenschaftlich, weil sich nämlich jeder Patient „völlig unparteiisch gegen seine Einfälle“ zu verhalten habe. Das ist die Garantie, dass das Unbewusste zum Ausdruck kommt. Doch nicht jeder Traum kann zur Deutung gebracht werden. Denn man müsse bedenken, lehrt Freud, welche „psychischen Mächte“ bei der Deutungsarbeit im Spiel seien. Erfolgreiche Deutungsarbeit bedeute, dass „man mit seinem intellektuellen Interesse, seiner Fähigkeit zur Selbstüberwindung, seinen psychologischen Kenntnissen und seiner Übung in der Traumforschung den inneren Widerständen den Herrn zeigen kann.“

Das sind, zusammengenommen, ungewöhnliche Thesen. Sie verlangen vom Fachpublikum gleich mehrere Dinge auf einmal: zu akzeptieren, dass es so etwas wie das Unbewusste gebe, mit den ihm eigenen Regeln; dass das Unbewusste nur sehr schwer, also über Umwege, zu ermitteln sei; dass man diese Umwege am besten durch die Traumdeutung ergründen könne; und dass die Traumdeutung – und somit auch die Psychoanalyse – erlernt werden müsse, um das Unbewusste zu erkennen. Fachleute sollen also konzedieren: Eine Wissenschaft, die die Psyche wirklich verstehen will, braucht keine Hypnose, keine Experimente im Labor und keine Gehirnanatomie. Was sie dagegen braucht, ist ein intensives, abgesichertes, durch die Praxis erprobtes hermeneutisches Verfahren, das anhand von freien Einfällen und Träumen die Wahrheit unter der „Oberfläche“ freilegt.

Das ist allerdings nicht alles, womit sich die Psychiater in Breslau beschäftigen müssen. Denn auch wenn Freud Die Traumdeutung als sein wichtigstes Werk bezeichnet hat, geben die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie aus dem Jahr 1905 genauso viel Anlass, sich an der Psychoanalyse zu reiben. In diesem Werk stellt Freud nämlich unmissverständlich fest: Schon in der frühesten Kindheit spielt die Sexualität eine wichtige Rolle. So wichtig, dass eine Fehlentwicklung in diesen ersten Jahren eines Menschenlebens zu schweren neurotischen Erkrankungen führen könne. Freud übernimmt von seinem einstigen Freund Wilhelm Fließ die Vorstellung, jeder Mensch sei ursprünglich bisexuell, weil ein „gewisser Grad von anatomischem Hermaphroditismus“ zur Norm gehöre. Auch die Perversionen versucht Freud nicht bestimmten Gruppen unterzuschieben. So schreibt er: „Bei keinem Gesunden dürfte irgendein pervers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualziel fehlen und diese Allgemeinheit genügt für sich allein, um die Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens Perversion darzutun.“ Weil alle Menschen eine „polymorph-perverse Disposition“ besitzen, können sich bei allen Menschen auch Perversionen ausbilden. Der Unterschied zwischen „normal“ und „anormal“ sei fließend. In einer späteren, 1915 erschienenen Auflage der Drei Abhandlungen wird Freud die sexuelle Entwicklung des Kindes in drei Phasen unterteilen: oral, anal und genital. Schon im Jahr 1905 spricht er von erogenen Zonen, die das Kleinkind, etwa beim Saugen an der mütterlichen Brust, als große Quelle der Lust empfindet.

Auch diese Thesen – sie sind nicht die einzigen im Buch – verbinden sich zu etwas Einzigartigem. Freud geht es um mehr, als die menschliche Sexualität zu verstehen, sexuelle Störungen zu verorten oder Variationen sexuellen Verhaltens zu katalogisieren. Das haben bereits andere Forscher – Henry Havlock Ellis, Albert Moll, Alfred Binet, Richard von Krafft-Ebing – vor ihm getan. Wie in seinem Traumbuch entwirft er ein Gesamtpanorama der menschlichen Psyche, in dem es die Zusammenhänge sind, die zählen: der Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und der Sexualität, der Sexualität und der Verdrängung, der Verdrängung und dem Widerstand, dem Widerstand und den Neurosen, den Neurosen und dem Unglück. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt ist die Psychoanalyse eine neue, auf hermeneutischen Methoden und naturwissenschaftlichem Denken beruhende Lehre, die mehrere Forschungsfelder in sich vereint: Psychologie, Sexualkunde, Entwicklungspsychologie, Psychotherapie und Kulturwissenschaft.

Im Jahr 1913 kommt noch ein Bereich hinzu: die Ethnologie. In Totem und Tabu versucht Freud die Psychoanalyse auf „ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie“ anzuwenden. Auch wenn die versammelten Experten in Breslau zu diesem Buch nicht direkt Stellung nehmen – Teile davon waren schon zuvor als Aufsätze in der Zeitschrift Imago erschienen –, enthält Freuds neuestes Werk Behauptungen, die die Befürchtungen vieler Psychiater bestätigen. Die Anwendung einer Lehre, die noch nicht allgemein anerkannt ist, auf die Frühzeit der Menschheit, der man sich nur spekulativ nähern kann, ist in jeder Hinsicht skandalös. Freud versucht diesen Spagat, indem er einen Zusammenhang herstellt zwischen der „Psychologie des Neurotikers“ und der „Psychologie der Naturvölker“. Genauer: Er nimmt den vom ihm postulierten „Kernkomplex der Neurose“, wonach die „erste sexuelle Objektwahl des Knaben eine inzestuöse“ gegenüber den „verpönten Objekten Mutter und Schwester“ sei, und behauptet, dieser Komplex habe seinen Ursprung in grauer Vorzeit. Wie hat man sich das vorzustellen?

Dass es sexuelle Wünsche im Kleinkindalter gebe, dass diese dem anderen elterlichen Geschlecht gelten und dass daraus Mordfantasien gegenüber dem Ehepartner des begehrten Elternteils entstehen – für Freud ist das der Grundstock seiner Neurosenlehre. Aus solchen infantilen Wünschen und Fantasien gehen Empfindungen hervor, die das Kind gegenüber seinem „Rivalen“ verspürt: Es liebt (als Sohn) den Vater, hasst ihn aber zugleich, weil dieser ihm den sexuellen Zugang zur Mutter verwehrt. Die aus diesem Zusammenhang herrührenden Gefühle der verbotenen Liebe und des verbotenen Hasses produzieren Ambivalenz, vor allem im Verhältnis zum Vater, den man nur lieben soll und nie hassen darf. Diese Gefühle werden verdrängt, leben aber im Unbewussten fort. Anhand der Analyse des „kleinen Hans“ glaubt Freud zu erkennen, dass die bei Neurotikern unverarbeiteten ambivalenten Gefühle auf andere Objekte verschoben werden können, in diesem Fall auf ein Pferd. Das Kind „schafft sich Erleichterung in diesem Ambivalenzkonflikt, wenn er seine feindseligen und ängstlichen Gefühle auf ein Vatersurrogat verschiebt“. Mit anderen Worten: Weil der Vater schon immer „tabu“ ist, sucht das Unbewusste im Sohn mittels „Projektionen“ nach anderen Wegen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Tabus gab es vor allem in der Frühgeschichte der Menschheit. Freud zitiert aus der reichhaltigen ethnologischen Literatur, um das für ihn zentrale Argument vorzubringen: Menschen schufen Tabus, damit sie sich ihren ambivalenten Gefühlen nicht stellen mussten. Genauer gesagt nicht Menschen, sondern Männer. Denn die Erfindung des Tabus und damit auch des Ödipuskomplexes sei das Resultat eines Ur-Mordes am Vater der „Urhorde“ gewesen. Die Brüder dieses „Über-Vaters“, dem alle Frauen der Horde gehörten, hatten ihn aus Eifersucht umgebracht. Was im Anschluss darauf folgte, beschreibt der Psychoanalytiker so: „Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußten sich die dabei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. [...] Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte, das verboten sie sich jetzt selbst in der psychischen Situation des uns aus den Psychoanalysen so wohl bekannten ‚nachträglichen Gehorsams’. Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten. So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabus des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipus-Komplexes übereinstimmen mußten.“

Wir müssen Freuds Theorie nicht im Einzelnen hinterfragen, um zu erkennen, welche Zumutung auch diese Schrift für die Zeitgenossen bereithielt. Hatte er in seinem ersten großen Werk das Unbewusste vorgestellt sowie das Verfahren, mit dem man das Unbewusste erkennen und erklären konnte; und hatte er sich in seinem zweiten großen Werk der Sexualität gewidmet sowie dem gar nicht so „unschuldigen“ Ablauf des Sexuallebens in der frühesten Kindheit, so trat er nun mit dem Anspruch an die Öffentlichkeit, die Anfänge der Zivilisation in Form eines Triebverzichts zu beschreiben. Nach Psychologie, Sexualkunde und Kulturwissenschaft nun also auch Ethnologie und Frühgeschichte – und das alles innerhalb weniger Jahre!

Und schließlich: Freud kümmerte sich kaum um die Reaktionen der Außenwelt, er verließ sich darauf, dass andere seine Sache in der Öffentlichkeit vertraten, so etwa C. G. Jung beim ersten internationalen Psychiatriekongress im September 1907. Der Gründer der Psychoanalyse fühlte sich nämlich durch „Gegenmeinungen gestört und strebte nach einem Diskussionsumfeld, das möglichst frei davon blieb“. Kritikern wie Max Isserlin, die an Psychoanalyse-Kongressen teilnehmen wollten, verweigerte er den Zutritt. Überhaupt kann man sagen, dass die Psychoanalyse einem ziemlich exklusiven Verein glich. Wenn Freuds Gegner immer wieder behaupteten, dessen Lehre habe etwas Sektenhaftes, übertrieben sie es ein wenig, dennoch zeigte sich Freud im Großen und Ganzen unbeeindruckt von der Rezeption seiner Wissenschaft.


In Breslau reagiert man auf den Psychologen und Psychotherapeuten Freud, nicht auf den Archäologen der menschlichen Kulturgeschichte. Die versammelten Experten wollen wissen, wie die Psychoanalyse als Wissenschaft zu beurteilen sei – und ob sie möglicherweise das Feld der Psychiatrie bereichern könne. Wie immer bei solchen Veranstaltungen geht es jedoch um mehr als nur die „reine“ Wissenschaft. Zweihundert Psychiater knüpfen und pflegen Kontakte, formen und bekämpfen Seilschaften und bestätigen durch ihre Anwesenheit die Bedeutung des eigenen Fachs. Aber im Falle Sigmund Freuds, so zwei prominente Historiker der Psychoanalyse, sei am 13. Mai 1913 mehr im Spiel gewesen. Sie zitieren einen Brief des amerikanischen Mediziners William Powers, der nach der Tagung Gelegenheit hat, mit dem berühmtesten deutschen Psychiater der damaligen Zeit, Emil Kraepelin, über das Treffen zu sprechen. Laut Kraepelin habe der ganze Sinn des ersten Tages darin bestanden, den bekanntesten Schweizer Psychiater der damaligen Zeit, Eugen Bleuler, die Möglichkeit zu geben, sich öffentlich von der Psychoanalyse loszusagen. Außerdem sei das Tagungsthema deshalb angesetzt worden, um Freuds Lehre ein für alle Mal zu verdammen. Aus diesem Grund, meinen Ernst Falzeder und John Burnham, könne man ohne Weiteres von einem abgekarteten Spiel sprechen.

Wenn dem so wäre – und ein einziger Brief ist etwas wenig, um von einer Kabale gegen die Psychoanalyse auszugehen –, dann müssen die Psychiater große Angst vor Freud gehabt haben. Derart hinter den Kulissen zu intrigieren, obwohl man selbst zur Crème de la Crème gehörte und der Gegner aus einer kleinen verschworenen Gruppe von überzeugten Anhängern bestand, war das wirklich nötig? Zumal das, was es dann in Breslau zu hören gab, nicht anders klang als frühere Stellungnahmen zur Psychoanalyse? Vielleicht ist es daher besser, von einer Veranstaltung zu sprechen, bei der das ganze „Establishment“ zusammenkommt, um nun im Chor das zu tun, was einzelne von ihnen schon seit Langem getan haben: vor Freud zu warnen.



Anthony D. Kauders

Über Anthony D. Kauders

Biografie

Anthony D. Kauders, geboren 1967, studierte Geschichte an der London School of Economics und der Universiät Oxford. Forschungs- und Lehrtätigkeiten führten ihn an die Universitäten Tel Aviv und Jerusalem. Seine zahlreichen englisch- und deutschsprachigen Publikationen sind unter anderem bei Oxford...

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„Wie verhielten sich die Deutschen zur Lehre Freuds? Wie dachten sie über das Ich, das Unbewusste und die Sexualität? Und was verrät die Freud-Rezeption über die "Leit- und Menschenbilder, die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft"? Das versucht Anthony Kauders herauszufinden.“

lernwelt.at

„Der Autor zeigt auf verblüffende Weise, wie wir anhand der Auseinandersetzung mit Freud die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen der deutschen Gesellschaft rekonstruieren können. Ein überraschendes Sittengemälde und ein ebenso faszinierendes wie abgründiges Panorama der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.“

kultur-punkt.ch

„Es ist nicht nur lese-, sondern auch seelen- freun(d)lich, wenn es ein Leseband gibt wie im tiefsinnigen Buch "Der Freud-Komplex" von Anthony D. Kauders. [...]. Ein stets aktuelles Diskursbuch zur Seelenlebensbetrachtung.“

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„Entstanden ist mit dem "Freud-Komplex" eine coole, anspruchsvolle und bis zur letzten Zeile spannende Analyse. [...]. Hier führt Kauders gelassen durch die teils abenteuerlichen antisemitischen Debatten um Ludwig Klages und C.G. Jung und arbeitet vor allem den antibürgerlichen Affekt des Nationalsozialismus heraus. [...]. Das souverän geschriebene und glänzend recherchierte Buch setzt allerdings, damit sich der Lesegenuss voll entfalten kann, Wissen voraus.“

Philosophie Magazin

„Zu den aufschlussreichsten Passagen dieser klugen ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Studie gehören jene, in denen Kauders das ambivalente Verhältnis der 68er zur klassischen Psychoanalyse untersucht.“

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